Handlungsbedarf

"Digitales Lernen ändert seinen Stellenwert"

 Prof. Dr.-Ing. Rolf GranowLübeck, Juni 2015 - "Lebenslanges Lernen wird in wissensbasierten Volkswirtschaften zum Erfolgsfaktor für Menschen und Unternehmen. Der Bereich eLearning bietet bei der Herausforderung 'Lebenslanges Lernen' und berufsbegleitende Weiterbildung eine elegante Lösung für die Lernenden und die Personalentwicklung in Unternehmen." Diese Position hat Prof. Dr.-Ing. Rolf Granow, Geschäftsführer der oncampus GmbH, bereits vor Jahren vertreten. Wie sich das bewährte Blended Learning jedoch bei fortschreitender Digitalisierung verändern muss, reflektiert er heute.

Sie haben als langjähriger Geschäftsführer der oncampus GmbH viele Trends und neue Entwicklungen gesehen. Wie wird sich Ihres Erachtens "4.0 – die digitale Revolution" auf das Lernen im Hochschulkontext auswirken?

Prof. Dr.-Ing. Rolf Granow: Das Internet als nach wie vor disruptive Technologie verändert alle Lebensbereiche. Unter dem Schlagwort "Industrie 4.0" erleben wir zur Zeit den Einbruch des "Internet der Dinge" in die Kerntechnologien der industriellen Güterproduktion – bei Produktentwicklung wie auch in der Produktion. Das betrifft insbesondere auch den Automobilbau, den Maschinen- und Anlagenbau. Zukünftige Wettbewerbsfähigkeit in diesen für die deutsche Wirtschaft so wesentlichen Branchen hängt massiv davon ab, das Web  als Innovationsfaktor der technischen Entwicklung international wettbewerbsfähig zu beherrschen. Wir brauchen nicht nur die besten Autobahnen, sondern auch die schnellsten Datenautobahnen – und wir müssen lernen, darauf exzellent zu fahren.

In diesem Zusammenhang spielt das lebenslange Lernen eine viel wichtigere Rolle, als wir noch vor kurzem gedacht haben. Dieses Lernen wird sich in den Strukturen verändern, in denen sich auch der übrige Lebens- und Arbeitskontext verändert – nämlich webbasiert. Das betrifft auch das Lernen im Hochschulkontext, welches Menschen ja auch systematisch befähigen soll, digital getriebene Innovationen zu gestalten. Die Befähigung, sich mit digitalen Methoden neue Wissensgebiete und wissenschaftlichen Fortschritt zu erschließen und sie innovativ für Produkte und Dienstleistungen zu nutzen, wird gerade in der Informatik sowie in den Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften zu einer Schlüsselkompetenz.  Die Grundlage dazu muss in Zukunft bereits das Erststudium legen.

Wenn "4.0" im Kontext von Produktion und neuen Geschäftsmodellen betrachtet wird, die alle auf einem digitalen Ansatz basieren, verschiebt sich dann nicht der Aus- und Weiterbildungsschwerpunkt von der Hochschule zum betrieblichen Lernen? 

Prof. Dr.-Ing. Rolf Granow: Die zunehmende Komplexität von Produkten, Produktion und Geschäftsmodellen in einer nachindustriellen, technologieintensiven Wirtschaft führt auch weiterhin zu einer relativen Zunahme wissenschaftlich fundierter Tätigkeiten. Das ändert nichts an der Relevanz der beruflichen Bildung, die sich den Herausforderungen der Digitalisierung genauso stellen muss und wird, ebenfalls mit zunehmend digitalen Lehr- und Lernformen. Bezogen auf die Lebensarbeitszeit wird sich in stark zunehmendem Maße das Lernen als lebensbegleitender Prozess von Erststudium und Erstausbildung relativ hin zum berufsbegleitenden Lernen hin verlagern. Auch kann die Digitalisierung einen entsprechenden Beitrag zur Öffnung und Durchlässigkeit des Bildungssystems leisten. Mit dem Studienabschluss hört für die Einzelnen das wissenschaftlich fundierte Lernen nicht mehr oder weniger auf – im Gegenteil. Dann sollte Hochschule aber auch optimal dazu befähigen.

Wie werden sich Blended Learning-Konzepte unter diesen Bedingungen verändern?

Prof. Dr.-Ing. Rolf Granow: Digitales Lernen ändert seinen Stellenwert. Es wird nicht mehr die gelegentliche, häufig eher dekorative Ergänzung bestehender  Lehr -und Lernformen sein, sondern integraler, und somit substantieller Bestandteil wohl der meisten zukünftigen Lernarrangements werden. Die Fähigkeit, im und mit dem Internet zu lernen, kann aus meiner Sicht nicht erst an den Hochschulen ausgeprägt werden, sondern muss und wird als grundlegendes Fundament bereits in den Schulen gelegt werden.

Es ist für mich schwer zu erkennen, wie dieser Prozess in Deutschland ablaufen wird, auf welchen Kompetenzen Hochschule zukünftig aufbauen kann. Dieses macht eine Einschätzung für die Entwicklung von Blended Learning-Konzepten nicht einfacher. Es kann aber im hochschulischen Kontext nicht darum gehen, grundlegende mediale Kompetenzen aufzubauen, sondern diese für vertiefte wissenschaftliche Befähigung weiterzuentwickeln und auszubauen. Die Paradigmen von Blended Learning stimmen dabei  mit den Zielen der Bologna-Reform und des Lissabon-Prozesses überein, insbesondere hinsichtlich auf Lernenden-Zentrierung und Orientierung am Learning Outcome.

Worauf müssen sich die Lernenden einstellen?

Prof. Dr.-Ing. Rolf Granow: Die Eigenverantwortlichkeit für die eigene Kompetenzentwicklung und die dafür erforderlichen Lernprozesse werden deutlich zunehmen müssen. Anders ist lebenslanges und berufsbegleitendes Lernen nicht sinnvoll gestaltbar. Das Internet stellt die erforderlichen Technologien, Wissensbestände, sowie Kommunikations- und Kollaborationswerkzeuge dafür zur Verfügung, die Selbstorganisation und Motivation zum Lernen müssen die Lernenden aber selbst einbringen.

Da digitales Lernen sich besser in die individuellen Berufs-, Erfahrungs- und Lebenswelten von Menschen einbetten lässt als andere Formate, wird es hierbei aber wirksame Unterstützung leisten können. Lernen wird zunehmend in Teams erfolgen, in virtuellen Teams. Neben dem Lernen in dezidierten geschlossenen Gruppen kommt dabei der Organisation von Lernen in offenen Gruppen mit offenem Zugang zu Wissen eine steigende Bedeutung zu. Gerade hier lassen sich individualisierte Lernwege in Gemeinschaft einfacher gestalten als bei stärker durchorganisierten Konzepten.

In welchen Zeiträumen denken Sie, wenn Sie die 4.0-Entwicklungen vor sich sehen?

Prof. Dr.-Ing. Rolf Granow: Ich denke,  es wird sich um ein bis zwei Generationen handeln. Demnächst kommt die erste Generation von wirklich "digital natives" an die Hochschulen; danach erst kommt es zum Generationenwechsel bei den Lehrenden an Schulen und Hochschulen. Diese Prozess ist aber zu langsam, um globale Wettbewerbsfähigkeit in einer digitalisierten Wirtschaft zu erhalten oder gar auszubauen. Deshalb besteht Handlungsbedarf.