IMC Experteninterview

Zehn Fragen zu Massive Open Online Courses - MOOC

Saarbrücken, Januar 2013 - Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer ist als Unternehmer und Wissenschaftler bekannt. Er ist Gründer der Scheer Group GmbH ebenso wie Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender der IMC AG. Daneben bekleidete er rund 30 Jahre lang die Position des Direktors des Instituts für Wirtschaftsinformatik (IWi) im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) an der Universität des Saarlandes mit dem Forschungsschwerpunkt Informations- und Geschäftsprozessmanagement in Industrie, Dienstleistung und Verwaltung. Aktuell gründete er die Initiative OpenCourseWorld, deren Intentionen er im Interview beschreibt.




Herr Professor Scheer, gemeinsam mit Universitäten, hochrangigen Dozenten und der IMC AG als Technologiepartner starten Sie zurzeit die Initiative OpenCourseWorld als erste deutsche, hochschulübergreifende MOOC-Plattform. Was sind die Gründe dafür?


Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer:
Das Konzept der MOOCs wird unsere Bildungslandschaft massiv verändern. Lassen Sie mich zunächst erklären, was ein MOOC überhaupt ist, bevor ich sage, warum wir uns meines Erachtens in Deutschland mit dem Thema schnell auseinander setzen müssen: Das Akronym "MOOC" steht für "Massive Open Online Course" und der Name sagt schon einiges an sich aus: Es handelt sich um Bildungsangebote, die online stattfinden und das in großen Dimensionen - in den USA und Kanada wurden bereits MOOCs mit Teilnehmerzahlen im sechsstelligen Bereich abgehalten!


Die Kurse sind wie an Hochschulen nach einem Vorlesungsplan strukturiert, mit Anfangs- und Endtermin, einzelnen Lektionen - sogenannten Modulen -, (Video)-Vorlesungen, Lektüre und Hausaufgaben. Als Online-Kurs erlaubt ein MOOC es jedoch den Teilnehmern, selbst zu entscheiden, an welchem Tag und zu welcher Zeit sie das bereitgestellte Material genau bearbeiten möchten. Die Inhalte sind didaktisch auf die Online-Vermittlung ausgelegt und speziell dafür instruktionsorientiert produziert.

MOOCs sind für jeden offen und kostenlos. Ein wichtiges Merkmal ist dabei der Social Media Aspekt: durch Kommunikationskanäle wie Twitter, Foren, Wikis, Videoplattformen und Blogs vernetzten sich die Teilnehmer, tauschen sich über den Kurs aus und steuern auch ihre eigenen, weiterführenden Lerninhalte bei. So wird die Wissensbasis permanent erweitert.

Nun zu den Gründen: In den USA werden in MOOC-Plattformen und Angebote hohe siebenstellige Dollarbeträge investiert. Unternehmen wie Udacity und Coursera sammeln Risikokapital ein, um mit Hochschulen die beste Lösung einzusetzen. In Deutschland gibt es diese Investitionssummen noch nicht, man entdeckt das Thema gerade erst. Aber es gibt die Möglichkeit, sich mit eigenen Angeboten zu positionieren und die europäische Bildungskultur zu wahren, wenn Plattformhersteller, die die Technologie haben, mit Hochschulen zusammen arbeiten. Das sind für mich die Beweggründe. Für Hochschulen sind MOOCs eine Chance und Gefahr zugleich.


Das klingt spannend. Lassen Sie uns zuerst beim Konzept der MOOCs bleiben, bevor wir zu den Herausforderungen für die Hochschulen kommen. Sie sagten, eine Eigenschaft der Kurse sei, dass sie kostenfrei sind. Inwiefern lohnt sich das denn überhaupt für den Veranstalter?


Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer:
Nun, zum einen bin ich der Meinung, dass es sich immer lohnt, Wissen weiterzugeben und auf diese Weise auch in Kontakt mit Talenten zu kommen. Mir ist es persönlich wichtig, den Bildungsstandort Deutschland voranzutreiben. Einige der größten Erfinder und Wissenschaftler aller Zeiten stammen aus Deutschland und es wird Zeit zu erkennen, dass wir nur dann wieder an die Spitze gelangen, wenn wir unseren Nachwuchs, aber auch die bereits im Beruf stehenden Fachkräfte und Manager gezielt fördern.


Zum anderen hat jeder Teilnehmer unserer Kurse die Möglichkeiten, Zusatzleistungen, die über die kostenfreie Teilnahme hinausgehen, zu erwerben. So können beispielsweise im Kurs "Learn how to lead" individuelle Coachings angeboten werden, in denen der Dozent ganz persönlich auf die jeweiligen Stärken und Schwächen des Teilnehmers eingeht. Auch weiterführende Literatur in Form von eBooks und natürlich ein Abschlusszertifikat kann - nach bestandener Teilnahme - erworben werden. Aber, um es nochmals zu betonen, die Teilnahme und das im Kurs vermittelte akademische Wissen stehen jedem kostenfrei zur Verfügung!


Welche Rolle spielen denn die Teilnehmer selbst im MOOC. Werden individuelle Aspekte unterstützt oder sind alle Teilnehmer gleich?


Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer:
MOOCs laufen in einer Community ab. Teilnehmer unterstützen sich hier gegenseitig. Zwar wird ein Teilnehmer nicht gleich auch zum Dozenten, aber zum Mitwirkenden. Die Lernenden diskutieren zum einen den aktuellen Stoff und beantworten sich gegenseitig Fragen, beispielsweise indem sie ein bestimmtes Hashtag auf Twitter verwenden, eine Facebook-Gruppe gründen oder sich in einem Forum austauschen. Gleichzeitig steht es aber auch jedem frei, persönlichen Erfahrungen zum Thema zu veröffentlichen, weitere interessante Literatur zu teilen oder - beispielsweise bei technischen Schulungsthemen - Anleitungen zu schreiben beziehungsweise in Form eines Videos zur Verfügung zu stellen.


Da viele Teilnehmer von MOOCs auch schon mit beiden Beinen im Berufsleben stehen, können hier sehr interessante Aspekte eines Themas aufgedeckt werden, von denen die ganze Community profitiert. Auf diese Weise entsteht ein Netzwerk an Informationen und Ansprechpartnern.

Für Hochschulen zeichnen sich hier also große Änderungen ab. Wie positionieren sich denn Ihrer Meinungen nach die deutschen Hochschulen? Besteht nicht die Gefahr, dass kostenlose Kurse die Geschäftsmodelle der Hochschulen unterlaufen und eine Debatte über Bildungsqualität neu anstoßen?

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer: Zentral ist die Kompetenz derer, die das Wissen vermitteln - ob in Präsenzvorlesungen oder in Online-Angeboten! Die Qualität von Bildung hat ja zunächst einmal nichts mit dem Format zu tun.

Ich glaube, dass die Hochschulen in Deutschland sich alle dem Thema öffnen müssen und auch werden. Heute ist in einigen Hochschulen beispielsweise die Vergabe von Credit Points noch damit verbunden, dass ein bestimmter Anteil an Stunden über Präsenzveranstaltungen erfolgen muss. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Hinzu kommt, dass die Entscheidung über die Entwicklung eines MOOC vielfach nicht auf Hochschulorganisationsebene getroffen werden kann, sondern die Professoren und Dozenten sich für die Idee erwärmen müssen und den Aufwand in Kauf nehmen müssen, ein solches Angebot zu realisieren.


Die Hochschule muss die Rahmenbedingungen und Anreize dafür schaffen, dass die Dozenten ihre Angebote offen gestalten. Dies kann sie tun, indem sie ihre Marke und ihr Profil dafür öffnet und Entscheidungen trifft, wie sie Professoren im Prozess der Erstellung und des Betriebs unterstützt.


Für mich ist wichtig, dass nicht jede Hochschule die Technologiefrage vor die Inhaltsseite stellt. Die Plattform www.opencourseworld.de soll als Partner für Hochschulen agieren können, die bereit sind, ihre Angebote in die Cloud zu stellen und gemeinsam mit der Wirtschaft anzubieten. Deshalb wollten wir schnell eine Lösung anbieten. Die IMC AG, welche OpenCourseWorld betreiben wird, arbeitet jetzt schon mit ersten renommierten Universitäten und anerkannten Dozenten zusammen.

Können Sie hier einige Namen nennen?

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer: Die aktuellen Kurse werden in Zusammenarbeit mit aktiven und ehemaligen Dozenten der Universität des Saarlandes, der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Technischen Universität München sowie der Universität Hamburg angeboten. Das Teilnahmezertifikat wird von der Universität des Saarlandes ausgestellt.

Weiterhin haben wir hochkarätige Personen eingebunden, die zu den Themen in Erfahrungsvideos Inhalte beisteuern können. So trägt beispielsweise mein Kollege Professor Wahlster vom DFKI mit Erfahrungsberichten zu seinen Führungserfahrungen bei, auch Software AG Vorstand Dr. Wolfram Jost teilt seine Erfahrungen als Unternehmensvertreter. Ich selbst werde ebenfalls meine Management Erfahrungen in Form von Lehrvideos zur Verfügung stellen. Im Kurs Business Process Management agiere ich für bestimmte Module selbst als Referent.


Haben denn auch Unternehmen die Möglichkeit, die MOOC Angebote zu nutzen?

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer: Natürlich. Die Angebote sind für Mitarbeiter in Unternehmen vielleicht sogar noch interessanter als für Studierende, denn sie können plötzlich akademische Kurse besuchen, die vorher allein schon aufgrund von Zeitrestriktionen nicht besuchbar waren. Zudem sind die Angebote zunächst kostenfrei, es sei denn, man wünscht ein Zertifikat als Nachweis, dann sind dafür entsprechende Zertifikatsgebühren zu entrichten, die den Betreibern, Hochschulen und Dozenten die Kosten decken.


Das hört sich alles sehr interessant und visionär an. Haben Universitäten unter diesen Umständen keine Sorge, dass ihnen langfristig die Studenten davonlaufen?

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer: Ich gehe zwar davon aus, dass Online- und Social Media-Formate wie MOOCs die Strukturen der Hochschulausbildung langfristig verändern werden, doch ich sehe hier keine Konkurrenz, sondern vielmehr eine Chance des sich Öffnens und Zusammenwachsens von Universitäten und freier Wirtschaft. Schon bald werden die Hochschulen die Open Courses für bestimmte Studiengänge als vollwertigen Kurs anerkennen und den Studierenden dafür die notwendigen Credits anrechnen - aus diesem Grund erhalten Studenten der UdS das Zertifikat für diesen Kurs auch kostenfrei. Das ist ein unumkehrbarer Prozess, in den USA sind diese Diskussionen auch erst am Beginn.


Wie kann man sich den Ablauf eines Kurses in etwa vorstellen?


Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer:
Es gibt rund sechs bis sieben einzelne Module, die jeweils für den Zeitraum von einer Woche abrufbar sind. Ein solches Modul umfasst dann ein kurzes Instruktionsvideo, einen Theorieteil bestehend aus Lehrvideos und einigen Dokumenten wie Powerpoint-Folien, Literatur oder ähnlichem, ein Erfahrungsvideo in dem Fachexperten persönliche Einblicke geben sowie eine Hausaufgabe und einen Test. Um alle Teile eines Moduls zu bearbeiten, sollte man rund vier Stunden Bearbeitungszeit einplanen.

Zu welchen Themen werden Sie denn persönlich Ihr Wissen beisteuern?

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer: Natürlich gehören beide aktuell geplanten Kurse - Leadership ebenso wie Business Process Management- zu meinen Interessen. Daher werde ich auch bei beiden Kursen als Experte agieren. Im Kurs "Business Process Management" gründen viele Inhalte aber auf von mir am Institut für Wirtschaftsinformatik erforschten Konzepten und praktischer Umsetzung bei IDS Scheer und heute der Scheer Management GmbH.


Die BPM Konzepte sind in der Praxis vieler Unternehmen weltweit angekommen und die Grundlagen dazu werden in dem Kurs von mir als Referent, aber auch von Professoren und Praktikern als weiteren Referenten aus meinem näheren Umfeld gelegt. Ich würde mich deshalb freuen, wenn der Kurs gut besucht wird.


Was geben Sie den Teilnehmer der OpenCourseWorld mit auf den Weg?

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer: Ich kann nur sagen: Nutzen Sie die Möglichkeiten, die Ihnen geboten werden! Qualitativ hochwertiges Wissen, offen und frei Haus geliefert ist eine tolle Chance für jeden, der sich für ein Thema interessiert. Investieren muss jeder Teilnehmende seine ganz persönliche Zeit. Dran bleiben und persönliches Engagement sind angesagt. MOOCs bieten sowohl Studierenden als auch Berufstätigen spannende Perspektiven für die weitere Laufbahn!