"Digitalisierung ist kein Selbstzweck"
Köln, Februar 2019 - Yvonne Gebauer (FDP) leitet seit knapp anderthalb Jahren die Geschicke der nordrhein-westfälischen Bildungspolitik. Im Interview erklärt die NRW-Kultusministerin, wie sie den Lehrermangel entschärfen will und warum die Digitalisierung eine Chance für individualisiertes Lernen darstellt.
Frau Ministerin, wie kann man dem Lehrermangel in Deutschland und in NRW beikommen?
Yvonne Gebauer: Indem man in den kommenden Jahren wieder mehr Menschen zu Lehrerinnen und Lehrern ausbildet, ihnen die verdiente Wertschätzung für ihre Arbeit zukommen lässt und viele weitere Möglichkeiten der Lehrergewinnung ausschöpft. Dabei geht es um kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen. Der Lehrermangel hat sich in den vergangenen Jahren zu einem bundesweiten Problem entwickelt, das uns auch in Nordrhein-Westfalen schwer zu schaffen macht. Unmittelbar nach Amtsantritt habe ich als Ministerin bereits Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu verbessern. Dazu gehören unter anderem zusätzliche Studienplätze für das Grundschullehramt und für das Lehramt der Sonderpädagogik.
Zum Start des aktuellen Schuljahrs ist bereits ein zweites Maßnahmenpaket geschnürt worden. Wir haben den Bewerberkreis für Seiteneinsteiger erweitert und die Möglichkeiten zur Verbeamtung erleichtert. Oberstufenlehrkräfte – von denen wir in einigen Fächern zu viele haben – können sich an einer Schule der Sekundarstufe I bewerben. Dort werden sie nach einer erfolgreichen Bewerbung sofort in ein Dauerbeschäftigungsverhältnis übernommen und können nach vier Jahren auf eine Sek-II-Stelle wechseln. Damit haben wir unser Programm "Erweiterter Einsatz für Oberstufenlehrerkräfte" aus dem letzten Jahr – dieses war bezogen auf die Grundschule – auf die Sekundarstufe ausgeweitet. Unser Ziel ist und bleibt, dass wir Angebot und Nachfrage in Bezug auf die grundständig ausgebildete Lehrkraft wieder ins Lot bringen.
NRW hat eine millionenschwere Lehrerwerbekampagne gestartet. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, erst einmal die Arbeitsbedingungen in den Schulen zu verbessern, um Lehramtsanwärter anzulocken?
Yvonne Gebauer: Hier gilt es, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Mit der Informationskampagne sprechen wir gezielt junge Menschen an und werben offensiv für den Beruf. Die Kampagne soll uns helfen, den Lehrernachwuchs langfristig zu sichern. Für bessere Arbeitsbedingungen in den Schulen haben wir bereits einige Maßnahmen auf den Weg gebracht. Beispielsweise durch 600 zusätzliche Stellen an den Grundschulen für sozialpädagogische Fachkräfte, die wir auch alle besetzen konnten. Noch einmal so viele sollen in diesem Jahr folgen. Gerade in der Schuleingangsphase sind sie eine große Unterstützung für die Lehrkräfte.
Wir konzentrieren uns also auf beides: auf die Sicherstellung einer ausreichenden Lehrerversorgung und auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Schulen. Diesen Weg gehen wir kontinuierlich weiter. Das zeigt sich auch im Haushalt für das Jahr 2019. Dann werden wir als einen ersten Schritt 45 zusätzliche Stellen für Schulverwaltungsassistenten schaffen. Diese übernehmen Verwaltungsaufgaben und entlasten damit die Schulleitungen. Somit werden insgesamt 384 Vollzeitstellen für Schulverwaltungsassistenten zur Verfügung stehen. Dies wollen wir in den nächsten Jahren weiter ausbauen.
Bildungserfolg hängt heutzutage noch stark von der Herkunft der Kinder ab. Wie kann man diesem Ungleichgewicht entgegenwirken?
Yvonne Gebauer: Dass nicht alle Schülerinnen und Schüler mit den gleichen Voraussetzungen starten, ist für mich als Schulministerin ernüchternd und traurig zugleich. Diese Analyse muss zur Folge haben, weitere Maßnahmen zu ergreifen und neue Wege zu gehen. Mit dem "Schulversuch Talentschulen" wollen wir in Nordrhein-Westfalen mehr Chancengerechtigkeit erreichen. Dazu werden wir bis zu 60 Schulen mit sozial schwierigem Umfeld sowohl personell als auch finanziell mit zusätzlichen Ressourcen ausstatten. Diese zusätzlichen Ressourcen sollen den Schulen dabei helfen, die Anforderungen des Schulversuchs optimal umzusetzen. Beispiele sind eine intensive sprachliche Förderung, eine verstärkte Berufsorientierung oder mehr Lernmöglichkeiten im Rahmen eines MINT-Profils bzw. eines Profils im Bereich der kulturellen Bildung.
Wie gedenken Sie, die Digitalisierung an den Schulen in NRW voranzutreiben?
Yvonne Gebauer: Digitalisierung in Schulen erfordert vielfältige Maßnahmen. Dazu gehören schuleigene Medienkonzepte, die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte, eine verlässliche Infrastruktur, die zeitgemäße digitale Ausstattung unserer Schulen und die Sicherstellung eines dauerhaften Supports, der durch Fach- und nicht durch Lehrkräfte zu gewährleisten sein wird. Digitalisierung ist kein Selbstzweck! Sie bietet die Chance für ein modernes und ein noch stärker individualisiertes Lehren und Lernen. In diesem Zusammenhang spielen natürlich auch die Kernlehrpläne eine wichtige Rolle. Diese werden sukzessiv überarbeitet, auch in Bezug auf die fortschreitende Digitalisierung. Gute Beispiele für bereits praktiziertes Lehren und Lernen im digitalen Zeitalter sind die digitalen Schulbücher "mBook Gemeinsames Lernen" und "BioBook NRW", die die Schulen derzeit kostenfrei nutzen können und die sich beide großer Beliebtheit erfreuen.
Die Rückkehr Nordrhein-Westfalens zu G9 wird teuer. Warum halten Sie die Abkehr vom Turbo-Abitur für notwendig?
Yvonne Gebauer: Vorweg: Jeder Euro, den wir in beste Bildung und somit auch in die Rückkehr zu G9 investieren, ist gut angelegt. Die große Mehrheit in Nordrhein-Westfalen hat sich diese Umstellung gewünscht. Die jahrelange Debatte hat gezeigt, dass das Turboabitur in Nordrhein-Westfalen keine Akzeptanz gefunden hatte, trotz diverser Versuche der Nachbesserung. Wir haben nach Regierungsübernahme zügig gehandelt, sodass der Landtag noch vor der Sommerpause 2018 den Gesetzentwurf zur Umsetzung der Leitentscheidung beschließen konnte. Wichtig ist, dass es kein einfaches Zurück zum alten G9 sein wird. Wir nutzen die Umstellung, um die Qualität der Bildung an den Gymnasien weiter zu verbessern, aber auch, um eigene, landespolitische Schwerpunkte in Bildung zu setzen.
Welche Pläne verfolgen Sie für die Inklusion in den Schulen Nordrhein-Westfalens?
Yvonne Gebauer: Bei der Inklusion in den Schulen war eine Umsteuerung erforderlich. Die Landesregierung hat vor der Sommerpause die relevanten Eckpunkte vorgestellt. Mit Beginn des Schuljahres 2019/2020 werden diese neuen Vorgaben wirksam. Bis dahin bereiten wir den Prozess im Dialog mit allen Beteiligten sorgfältig vor. Das aktuelle Schuljahr ist somit als ein Übergangsjahr zu betrachten. Wir haben bei der Umsetzung ein klares Ziel: Die Qualität muss an erster Stelle stehen. Deshalb führen wir erstmalig auch Qualitätsstandards ein. Dazu zählen ein pädagogisches Konzept, systematische Fortbildungen, räumliche Voraussetzung sowie die Gewährleistung, dass Lehrkräfte für die sonderpädagogische Förderung an den Schulen unterrichten.
Ebenfalls neu an den Schulen des Gemeinsamen Lernens in der Sekundarstufe I ist die sogenannte Inklusionsformel: 25–3–1,5. Das heißt konkret: In den Eingangsklassen der weiterführenden Schulen, an denen Gemeinsames Lernen eingerichtet ist, lernen zukünftig durchschnittlich 25 Schülerinnen und Schüler, davon durchschnittlich drei mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung. Für jede dieser Klassen erhält die Schule eine halbe zusätzliche Stelle. Wir schaffen durch die Neuausrichtung bis zum Schuljahr 2024/2025 mindestens 6.000 Stellen mehr, als Rot-Grün für die schulische Inklusion vorgesehen hatte. Diese enormen Investitionen zeigen deutlich, welchen Stellenwert die Inklusion für die Landesregierung hat.
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