Virtuelle 3D Welten und ihr verkanntes Potenzial
Stuttgart/Ulm, Februar 2015 - (von Dr. Matthias Schraft und Markus Herkersdorf) Kaum eine Technologieanwendung im Kontext von Bildung und Team Kollaboration verfügt über ein derart breites und vielfältiges Potenzial wie virtuelle 3D Welten. Sie könnten schon bald eine neue Kategorie von Unternehmenssoftware begründen.
Peter Müller ist hochkonzentriert. Gemeinsam mit seinem Team steht er vor der Produktionsanlage, die er in wenigen Stunden seinen chinesischen Kunden präsentieren wird. Doch während sich der Geschäftsführer eines schwäbischen Maschinen- und Anlagenbauunternehmens bereits in China befindet, sitzen die Kollegen am heimischen Firmensitz in ihren Büros. Der gemeinsame Treffpunkt ist virtuell. In einer 3D Umgebung, die im Corporate Design dem eigenen Unternehmensgebäude nachempfunden wurde, haben sich Müller und Kollegen an einem funktionsfähigen 3D Modell der Anlage getroffen.
Kunstfiguren in Menschengestalt, sogenannte Avatare, erlauben es ihnen, sich in der virtuellen Halle frei zu bewegen und beliebige Positionen an der Anlage einzunehmen. Per Headset und Mikrofon ist eine natürliche Sprachkommunikation untereinander möglich. Dabei hören alle Teilnehmer, entsprechend der Position ihres Avatars im Raum, die anderen in der jeweils richtigen Entfernung und Richtung.
Einmaliges Produkterlebnis
Müller wird eine offline Variante der virtuellen Welt gleich auch bei seiner Kundenpräsentation einsetzen. Statt der üblichen Powerpoint-Präsentation, nimmt er seinen Kunden mit auf eine interaktive Entdeckungsreise rund um die neue Produktionsanlage und verschafft diesem damit ein einmaliges Produkt-Erlebnis. Gemeinsam erkunden sie das animierte 3D Modell der Anlage und durchlaufen einen Parcours aus Multimediawänden mit ausgewählten Produkt-Highlights und Informationen zum Unternehmen.
Der Geschäftsführer schätzt besonders die große Nähe zum Produkt, die er auf diese Weise herstellen kann, sowie die Flexibilität, die Präsentation jederzeit spontan an der Interessenlage seines Kunden ausrichten zu können. Auf vielfachen Kundenwunsch, ist er zudem dazu übergegangen, dem Kunden die offline Version der virtuellen 3D Präsentationswelt als spannendes und nachhaltiges Anschauungsmaterial da zu belassen, was zu einer intensiveren Auseinandersetzung auch im Nachgang zum gemeinsamen Termin führt.
Vielfacher Nutzen
Bereits im Vorfeld zum Präsentationstermin haben Peter Müller und sein Team, die virtuelle 3D Welt intensiv zur Vorbereitung genutzt. So wurden zahlreiche Projektmeetings trotz räumlicher Nähe am Standort, rein virtuell abgehalten. Bei sehr geringem Organisationsaufwand, direkt vom eigenen Arbeitsplatz oder vom Home Office aus, in einer medientechnisch optimal ausgestatteten Umgebung, unaufwendig und ggf. auch spontan zusammenkommen zu können, hatte schnell Anhänger gefunden.
Aber auch Zusammenkünfte mit Externen finden regelmäßig in der virtuellen 3D Welt statt. So entschied sich Peter Müller bei der interkulturellen Vorbereitung für einen Trainer aus der Region seines Kunden, mit dem er sich dann mehrfach direkt in der virtuellen Präsentationsumgebung traf.
Für Müller und sein Unternehmen ist der Einsatz von virtuellen Lern- und Arbeitswelten längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Neben der Nutzung für Meetings und als leistungsfähige Kollaborationsumgebung für verteilte virtuelle Teams, finden darüber Produktschulungen, Vertriebstrainings, Sicherheitsunterweisungen, Sprachtrainings sowie Fach- und Führungskräfte-Coachings statt. Als nächstes Projekt im Bereich Unternehmenskommunikation sowie Marketing und Vertrieb, ist die Umsetzung eines virtuellen 3D Showroom für Kunden und Interessenten geplant.
Und sollte die Präsentation zu einem Auftrag führen, hat Müller fest vor, die weitere Projektplanung und Kommunikation mit seinem chinesischen Kunden über die kollaborative 3D Umgebung abzubilden, ebenso die nachhaltige technische Betreuung nach Inbetriebnahme und den weiteren After-Sales Service.
Verkanntes Potenzial
Wenn man das hohe Nutzenpotenzial aus dem skizzierten Anwendungsbeispiel betrachtet, bleibt zu fragen, wieso Virtuelle 3D Welten bislang keine größere Verbreitung erzielen konnten? Neben technischen Herausforderungen, auf die wir in der Folge noch eingehen, sind es wohl primär mangelnde Kenntnis zu aktuellen Möglichkeiten und Einsatzfeldern bzw. nur langsam weichende Skepsis bei denjenigen, die die erste Hype-Phase rund um Second Life vor rund zehn Jahren erlebt haben.
So führt etwa der Trendmonitor 2014 des MMB Instituts, bei der Frage nach Anwendungen mit zentraler Bedeutung für das betriebliche Lernen im Unternehmen, Lernumgebungen in virtuellen 3D Welten mit einer eher geringen Bedeutung an. Auf den vordersten Plätzen finden sich die Themen Blended Learning, Virtuelle Klassenräume und Mobile/Apps. Greifen wir die beiden ersten Themen heraus und setzen sie in den Kontext zu virtuellen 3D Welten.
Virtual 3D Classroom
Virtuelle (2D) Klassenraum-Lösungen haben sich in den letzten Jahren zunehmend etabliert, etwa in der Form von Webinaren. Sie stellen eine flexible, kosteneffiziente und nutzbringende Möglichkeit dar, in verteilten Arrangements gemeinsam an Info- oder Lernthemen zu arbeiten. Ein Virtual 3D Classroom erweitert den Anwendungsbereich sowie die Nutzungsoptionen nochmals erheblich. Mit einer dreidimensionalen Umgebung, in der man sich bewegen kann, der Personenrepräsentanz durch teilnehmergesteuerte Avatare sowie entfernungs- und richtungsabhängiger Sprachkommunikation, lässt sich eine weitestgehend natürliche Kommunikation und soziale Interaktion erreichen. Dabei heben Teilnehmer immer wieder den vergleichsweise entspannten Aufenthaltscharakter in einer virtuellen 3D Welt hervor und bestätigen die natürliche Empfindung, die eine solche Umgebung bei Ihnen hervorruft. Orientierungs-, Kommunikations- und Interaktionsprozesse laufen spontan und nach vertrauten Mustern ab.
Insbesondere für kompetenzorientierte Bildungsprozesse von zentraler Bedeutung: In einem Virtual 3D Classroom kann aktiv gehandelt werden, von sozialen Aktivitäten, über anspruchsvolle Rollenspiele bis hin zum manipulativen oder simulativen Umgang mit 3D Objekten, etwa in einem technischen Lernkontext. Mögliche Settings erstrecken sich vom einzelnen Raum bis zur kompletten virtuellen Akademie.
Blended Learning goes 3D
Virtual Blended Learning wirkt wie ein begrifflicher Widerspruch zur Definition von Blended Learning als eine Kombination von Präsenzveranstaltung und eLearning Anteilen. Und dennoch könnte es sein, dass in Zukunft der Präsenzbegriff seine physische Eindeutigkeit verliert. Nutzer von realitätsnahen, virtuellen 3D Welten fühlen sich dort in einem hohen Maße sowohl räumlich als auch sozio-emotional präsent. Es kann beobachtet werden, dass vergleichbare gruppendynamische Prozesse stattfinden, ebenso wie typisch informelle Handlungen, etwa der spontane Smalltalk in Pausen.
Damit entstehen aber belastbare Optionen, Präsenzveranstaltungen teilweise oder auch vollständig in Form von gemeinsamer virtueller Präsenz anzubieten. So an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Aalen. Dort programmieren Studenten Steuerungsalgorithmen für Roboter an Medienwänden in einem Virtual 3D Classroom von TriCAT. Die Ergebnisse sind dann unmittelbar an ebenfalls virtuellen Robotern in der 3D Welt zu beobachten. Neben hoher Motivation und Spaß, besteht durch die virtuelle Anwendung eine Entkopplung von limitierenden Faktoren wie Verfügbarkeit von Robotern, Öffnungszeiten der Hochschule/Labore sowie individuellem Lerntempo.
Domänenübergreifende Lösung
Virtuelle 3D Welten werden heute vor allem im Kontext von projektbezogenen Einzellösungen wahrgenommen. Dabei liegt die besondere Mächtigkeit in einer nahezu universellen Einsetzbarkeit verbunden mit einer sehr großen funktionalen Integrationsfähigkeit. Wie im einleitenden Beispiel angedeutet, kann ein und dieselbe virtuelle Welt für zahlreiche unterschiedliche Aufgaben, Zielsetzungen und Nutzer im Unternehmen und über die Organisationsgrenzen hinaus eingesetzt werden. Die gleiche Software-Basis unterstützt eine Nutzung als Selbstlern-, Teamtraining- oder Kollaborationsumgebung, direkt vom stationären Arbeitsplatz oder auch von mobilen Endgeräten aus. Diese multipotente Funktionalität qualifiziert eine Virtuelle Welten Lösung zum querschnittlichen, domänenübergreifenden Einsatz im Unternehmen.
Die Technik dahinter
Auch wenn rein browser-basierte Virtuelle 3D Welten verfügbar sind, dominieren derzeit Server-Client-basierte Architekturen den Markt. Aktuell stellen sie den besten Kompromiss aus erreichbarer Performance und Anforderungen an Bandbreiten dar.
Selbst graphisch und seitens der Interaktion anspruchsvolle Lösungen funktionieren auf der Hardware-Basis wie sie derzeit in den meisten Unternehmen und Organisationen eingeführt ist. Auch aktuelle Tablet-Systeme bringen ausreichend Leistung für die Nutzung von Virtuellen 3D Welten mit. Die benötigten Bandbreiten hängen stark davon ab, ob und in welcher Intensität (multimediale) Inhalte gestreamt werden und entsprechen dann den Anforderungen bekannter Streaming Dienste. Ohne Streaming Inhalte liegt der Bandbreitenbedarf inklusive der Audiokommunikation bei wenigen 100 kbit/sec pro Client.
Betriebsmodelle und wirtschaftliche Aspekte
Virtuelle 3D Welten existieren sowohl als maßgeschneiderte Unternehmenslösung als auch als Software-as-a-Service (SaaS) Angebot. In der SaaS Variante bezahlen die Nutzer lediglich für die Zeitdauer der Nutzung etwa in einem Prepaid-Ansatz ohne vertragliche Bindung. Dies kommt dem typischen Nutzungsverhalten von kleinen Sprachinstituten, Einzeltrainern oder Coaches entgegen. Sie erhalten so einen kostengünstigen und flexiblen on-demand Zugriff auf standardisierte Leistungen.
Projektbezogen oder bei zunächst extensiver Nutzung kann das SaaS Angebot auch für Unternehmen interessant sein. Allerdings empfiehlt sich hier die Kombination mit einem Managed Service Ansatz, der initiale Schulungen, Veranstaltungsmanagement sowie Support-Dienstleistung beinhalten sollte.
Die dritte prinzipielle Variante stellt die lizenzbasierte Unternehmenslösung dar. Bevorzugt bei intensiver Nutzung, kommt hinzu, dass größere Organisationen oftmals spezielle Bedürfnisse haben und individuelle Anforderungen an "ihre" virtuelle Welt stellen. Die Gesamtkostenbetrachtung setzt sich in diesem Fall aus Lizenzierungs-, Software-Anpassungs-/Erstellungs- und Betriebskosten zusammen. Hinsichtlich der Betriebskosten ist noch zu unterscheiden, ob ein Unternehmen die virtuelle Welt komplett inhouse betreiben will oder extern hosten lässt, etwa durch den Hersteller.
Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen lassen sich unterschiedlich vornehmen. Ausgangspunkt kann je nach Einsatzschwerpunkt ein Kosten-/Nutzenvergleich mit den bisherigen Beschaffungs- und Bereitstellungskosten von Bildung sein oder auch eine Betrachtung hinsichtlich der Potenziale für Kosten- und Ressourcenoptimierung bzw. Effizienzgewinne und Wettbewerbsvorteile bei einem konsequenten Einsatz von virtuellen Welten entlang des gesamten Wettschöpfungsprozesses in einem Unternehmen wie im Eingangsbeispiel aufgezeigt.
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