Lebenslanges Lernen

"ELearning wird eine Renaissance erleben"

Prof. Thomas SchildhauerBerlin, März 2015 - Prof. Thomas Schildhauer beschäftigt sich mit dem Thema Industrie 4.0. Er ist unter anderem Direktor des von ihm gegründeten Institute of Electronic Business e.V. (IEB), dem größten An-Institut der Universität der Künste Berlin (UdK), Geschäftsführender Direktor des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft gGmbH (HIIG), Informatiker, Marketingexperte und Internetforscher, weiterhin Mitglied im wissenschaftlichen Rat der Plattform Industrie 4.0 und Leiter des Berlin Career College, an dem die Weiterbildungsangebote der UdK gebündelt sind. Seine Meinung hat Gewicht und Wirkung.

Welche Auswirkungen wird Ihres Erachtens die fortschreitende Realisierung von Industrie 4.0 auf das heutige eLearning haben?

Prof. Thomas Schildhauer: ELearning wird eine Renaissance erleben, und  sich erstmalig in der Breite als eine wichtige Form der Wissensvermittlung durchsetzen. Heute bestehen ganz andere Voraussetzungen als vor zehn, zwanzig Jahren – Menschen müssen nicht mehr an für sie fremde Systeme herangeführt werden, sondern nutzen die ihnen vertrauten Geräte, etwa Smartphones oder Tabletcomputer, die sie bereits im Alltag verwenden.

Auch die Aufbereitung der Lerninhalte kommt diesen Nutzungsgewohnheiten entgegen, etwa in Form von Gamification und Serious Games, also der Verwendung spieltypischer Merkmale im spielfremden Kontext in Verbindung mit Lernelementen. Nicht nur junge Zielgruppen werden auf diese Weise angesprochen; umgekehrt würden diese jedoch von "antiquierten" Lernformen eher abgeschreckt. Laut einer Umfrage von Tomorrow Focus Media nutzten im vergangenen Jahr 37,9 Prozent der Deutschen Spiele-Apps.

Dieses Potenzial kann für die Weiterbildung direkt genutzt werden: Beispielsweise hat der eLearning-Anbieter equeo aus Berlin kürzlich eine Quiz-App entwickelt, in der Mitarbeiter ihr Wissen testen und sich mit ihren Kollegen messen können. Ein großes europäisches Versicherungsunternehmen stellt seinen Mitarbeitern mit diesem Tool sämtliche Prüfungsfragen zur Ausbildung zur Versicherungsfachfrau/ -mann zur Verfügung. Durch den parallel zur regulären Ausbildung eingesetzten spielerischen und kompetitiven Charakter der Quiz-App beschäftigen sich die Anwender wiederholt und intensiv mit den Lerninhalten.  

Aus Unternehmenssicht liegt die Herausforderung von Industrie 4.0, dem "Paradigmenwechsel von zentraler zu vernetzter, dezentraler Steuerung der Produktion" in den steigenden Ansprüchen an die Verantwortung der einzelnen Mitarbeiter. Diese müssen in der Lage sein, Abläufe in ihrer Gesamtheit zu erfassen; daher kommt den Bereichen Personal und Aus-/Weiterbildung besondere Bedeutung zu: Lernen wird zu einem lebenslangen Prozess.

Wie werden sich künftige Lernszenarien von den jetzt genutzten Lernprogrammen, Wissensdatenbanken und Lern- und Wissens-Communities unterscheiden?

Prof. Thomas Schildhauer: Lernen wird situativ, das heißt, dass Lerninhalte genau dann zur Verfügung stehen werden, wenn sie gebraucht werden, in kleinen Einheiten aufbereitet. Außerdem wird Lernen adaptiv – es passt sich also neben der konkreten Situation auch an die Vorkenntnisse und das Lernverhalten der jeweiligen Person an. Möglich wird dies durch eine Auswertung der Lerndaten, die auch als Grundlage zur Anpassung und Optimierung der Inhalte dient.

Lernen wird zunehmend "social"; der Austausch und das gemeinsame Vertiefen der Lerninhalte und die gegenseitige Unterstützung in der Lösungsfindung steigen in der Bedeutung. Communities of Practice werden zunehmen, besonders soziale (Berufs-) Netzwerke werden eine größere Rolle als bisher spielen.

Wird künftig die Lernform vom Arbeitsumfeld abhängig sein und sich daher alle in der Produktion Tätigen auf sehr spezifische Szenarien einstellen müssen?

Prof. Thomas Schildhauer: Außer vom Arbeitsumfeld hängt die Lernform auch von der Zielgruppe, von den Vorkenntnissen der betreffenden Mitarbeiter, von Lerntyp und -geschwindigkeit ab. Die hierarchische Trennung von planenden Ingenieuren und ausführenden einfachen Arbeitern wird zumindest aufgeweicht werden, da in der "smarten" Fabrik an jeder Stelle prozessübergreifende Kenntnisse und eine kontinuierliche (Nach-)Schulung der Mitarbeiter in Bezug auf die sich schnell verändernden technischen Arbeitsumgebungen erforderlich werden. Demzufolge ist eine bedarfsorientierte – "smarte" – Weiterbildung für alle Mitarbeiter relevant.

Welche Rolle wird in derartigen Lernszenarien die hierzulande so wichtige Didaktik spielen?

Prof. Thomas Schildhauer: Die Didaktik wird auch bei neuen eLearning-Angeboten weiter wichtig bleiben – nicht digitale Technologien an sich verändern die (Weiter-)Bildung, sondern passende didaktische Konzepte. Für Konzepte wie das problembasierte Lernen erscheinen bestimmte Formen des eLearning (situativ, mobil, adaptiv) prädestiniert. Parameter wie die Rahmenbedingungen, Zielgruppe, Inhalte und Ziele können unter Umständen sehr gut über analytische Funktionen eines smarten eLearning-Systems bestimmt werden. Weniger wichtig als die Methoden wird die Gestaltung des didaktischen Modells werden, weg vom sequentiellen Lernen hin zu offenen Lernformen, die ein vernetztes, selbstgesteuertes Lernen fördern – gewissermaßen von einer Angebotsorientierung zu einer Nachfrageorientierung.

Wird es im Kontext von Industrie 4.0 mittelfristig noch ein Lernen ohne Computerbasis geben?

Prof. Thomas Schildhauer: Natürlich! Nicht alle Lerninhalte sind nur für ausschließlich für die digitale Vermittlung geeignet. Bestimmte Inhalte lassen sich besser in Lernszenarien, bei denen die Lernenden an einem gemeinsamen physischen Ort zusammenkommen, vermitteln. Darauf können dann digitale Weiterbildungsangebote aufbauen. Ob die Grundlagen ihrerseits weitgehend auf digitalem Wege erlangt werden, hängt letztlich von individuellen Faktoren (Lerntyp, Vorlieben) ab. Der Computer bleibt ein Hilfsmittel – die Kommunikation mit anderen Menschen bleibt zentral für das Lernen. Diese kann allerdings auch online erfolgen, in zunehmendem Maße wird sie dies auch tun.

Der Computer in seiner klassischen Form (groß, schwer, stationär) verschwindet nach und nach, abgelöst nicht nur von  Smartphones und Tablets sondern auch von verschiedenen Gadgets und Minicomputern, die im Internet der Dinge viele kleine Aufgaben übernehmen. Einzukalkulieren sind auch gegenläufige Entwicklungen: Menschen, die Urlaub machen vom "Immer-online-sein", eine neue Wertschätzung ungestörter persönlicher Treffen oder der haptischen Qualität eines gedruckten Buches, das eben nicht unablässig die neuesten Neuigkeiten liefert.