Ein eLearning-Programm, das sieht, was nicht gesagt wird
Chemnitz, Dezember 2015 - Steht ein Dozent im Seminarraum vor Studierenden, kann er erkennen, ob diese aufmerksam seinen Ausführungen folgen oder abgelenkt sind - und kann darauf reagieren. Sitzt der Lernende jedoch vor einem Rechner und erhält den fachlichen Input über eine eLearning-Anwendung, dann erkennt das System nicht, ob der Lernende auf sein Handy schaut oder ihm die Augen zufallen - zumindest noch nicht. Ein interdisziplinäres Team aus Informatikern und Medienwissenschaftlern der Technischen Universität Chemnitz arbeitet im Projekt "Human Responsive Design (HRD)" daran, dies zu ändern.
Dazu kooperiert die TU Chemnitz mit der chemmedia AG, einem Anbieter von eLearning-Anwendungen, der 1997 von Absolventen der TU Chemnitz gegründet wurde und heute 370 Kunden in 38 Ländern betreut.
"Bisher lassen sich eLearning-Programme auf verschiedene Niveaustufen einstellen, sie reagieren aber nicht auf nonverbale Signale des Lernenden", beschreibt Jun.-Prof. Dr. Paul Rosenthal die Ausgangslage. Der Inhaber der Juniorprofessur Visual Computing gibt ein Beispiel: "Die proaktive Komponente, die wir im eLearning verorten wollen, könnte unter anderem so aussehen, dass ein Video automatisch stoppt, wenn das Handy des Nutzers klingelt."
Hierzu wollen die Informatiker Daten extrahieren, die eine Webcam liefert. Worauf sie dabei achten müssen, erfahren sie von der Professur Medienpsychologie unter Leitung von Prof. Dr. Peter Ohler. Professurmitarbeiter Dr. Nicholas Müller erklärt: "Die Auflösung der Webcams ist gut genug, um beispielsweise zu erkennen, dass jemand die Augenbrauen bewegt. Das Programm sollte dies künftig als Fragezeichen im Gesicht interpretieren können und beispielsweise automatisch eine Wiederholung des Lernstoffes anbieten."
Hierbei spielt neben der automatisierten Erfassung von nonverbalen Kommunikationssignalen auch der Datenschutz eine entscheidende Rolle. "Das Ziel ist es, den Lernenden zu unterstützen, nicht zu überwachen", erklärt Projektmitarbeiterin Madlen Wuttke von der Professur Medienpsychologie. "Wir beabsichtigen, dass das System in seiner Endstufe beispielsweise auswerten kann, ob der Nutzer aktiv den Bildschirm betrachtet oder ob der Geräuschpegel der Umgebung zu laut ist und der Computer eventuell die Lautstärke anpassen oder die Aufmerksamkeit des Benutzers zurück auf den Bildschirm lenken muss", sagt Wuttke und ergänzt: "Darüber hinaus können physiologische Parameter, wie der Augenöffnungsgrad, Gähnen oder irrelevante Blickrichtungen, Indikatoren sein, die zum Beispiel auf Müdigkeit oder Desinteresse hindeuten, auf die das System reagieren soll."
Die theoretische Grundlage für das Projekt ist gelegt: Madlen Wuttke von der Professur Medienpsychologie hat im Rahmen ihres noch laufenden Promotionsvorhabens untersucht, wie sich eine proaktive Komponente im eLearning auf den Lernerfolg auswirkt. Das Ergebnis ihrer Forschung zeigt ein hohes Potenzial für diesen Entwicklungsansatz. "Das selbstgesteuerte Lernen ist der große Vorteil von eLearning. Wir arbeiten daran, dass das System den Lernenden dabei künftig noch besser unterstützt", fasst Rosenthal zusammen. Darüber hinaus sind auch alternative Anwendungen denkbar, etwa teilautonome Fahrzeuge, die auf physiologische Symptome wie Müdigkeit bei Fahrern reagieren.
Der Wissens- und Technologietransfer aus der Chemnitzer Universität in die regionale Wirtschaft steht bei diesem Projekt im Zentrum: Da die Forscher die neuen Features direkt in bestehende Anwendungen der chemmedia AG umsetzen können, entsteht am Ende des Projektes ein praktischer Nutzen für die Nutzer von eLearning Anwendungen. Die chemmedia AG integriert diese Technologie in ihre mobile Lern-App für Mitarbeiter, Partner und Kunden. "Indem interaktive Lerninhalte den Mensch in seiner aktuellen Lernsituation berücksichtigen, steigern wir den individuellen Lernerfolg und sichern die Ausrichtung der Wissensvermittlung an den Unternehmenszielen", erläutert chemmedia-Vorstand Lars Fassmann.
Das Projekt wird bis Februar 2018 für zweieinhalb Jahre mit rund 650.000 Euro durch die Europäische Union im Rahmen des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) sowie aus Mitteln des Freistaates Sachsen gefördert.
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