Humboldt lässt grüßen: Entdeckendes Lernen im Hörsaal
Leipzig, Januar 2016 - Wovon Schüler und Studierende träumen, könnte sich endlich bewahrheiten: Der Frontalunterricht verliert endgültig seine Berechtigung. Die Digitalisierung revolutioniert unser Bildungssystem. Während die einen auf den weitgehenden Ersatz des analogen Lernens durch eLearning setzen, arbeiten die wissenschaftlichen Hochschulen weltweit an neuen Konzepten, um digitales und analoges Lernen im Sinne des problem- und forschungsorientierten Ansatzes in bester Humboldt'scher Tradition wieder miteinander zu verknüpfen.
Auf diese Weise könnte es gelingen, eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit zur Aufnahme und kritischen Reflexion neuen Wissens und zur kreativen Suche nach neuen Lösungen zu erreichen. Denn während Studierende – falls sie mal eine Vorlesung nicht wahrnehmen konnten - noch bis vor kurzem dem Lehrstoff hinterher rennen mussten, um nicht den Anschluss zu verlieren, ist die physische Abwesenheit für den reinen Wissenserwerb heute kein Problem mehr. "Ich lerne von zu Hause aus, wenn es mir passt", sagt Katrin Lehmann. Gleichzeitig bleibt mehr Raum, um in der Präsenzlehre noch besser auf spätere Führungsaufgaben vorbereitet zu werden. Sie macht gerade den MBA an der HHL Leipzig Graduate School of Management und profitiert von dem, was den akademischen Unterricht zurzeit revolutioniert: Flipped Classroom.
Das Prinzip ist im Grunde ganz einfach: Der Lehrende vermittelt das Grundwissen nicht wie bisher vor einer Klasse und die Studenten müssen dies zuhause nacharbeiten Flipped bedeutet im Deutschen so viel wie "umgedreht". Die Schüler eignen sich den Lehrstoff also selbstbestimmt und mit interaktiver Lernsoftware zu Hause an und nutzen die Präsenzveranstaltungen dazu, ihr Wissen zum besseren Verständnis aktueller Forschungsfragen und lebender Fallstudien nutzbar zu machen. Das im Selbststudium Erlernte wird im Unterricht hinterfragt, zurechtgerückt und neu gedacht.
Alles digital, oder was?
Wenn Katrin Lehmann also studieren will, sieht das Ganze so aus: Sie geht in die Küche, macht sich einen Kaffee, danach klappt sie ihren Computer auf und legt los. Verschiedene Onlinekurse ersetzen das, wofür sie kürzlich noch in den Hörsaal eilte. Heute steht Innovationsmanagement auf ihrem Stundenplan. Das ist die Kunst, aus neuen Ideen neue Produkte oder Dienstleistungen hervorzubringen und erfolgreich am Markt durchzusetzen.
Katrin Lehmann konzentriert sich auf die Grafiken und die kurzen Videos auf ihrem Bildschirm. Ein Mann erklärt anhand eines realen Beispiels, was ein Unternehmer tun muss, um die Konsumenten von einem neuen Produkt zu überzeugen. Für Lehmann ist das digitale Lernen nicht neu: Zwei Semester Mathematik hatte sie schon an der Universität studiert und Differenzialgleichungen mithilfe von Onlinekursen gelöst. "Das Gute ist, wenn ich etwas nicht verstanden habe, kann ich es sofort online recherchieren", sagt die 27-Jährige.
Der Hörsaal wird zum Labor
An der privaten wissenschaftlichen HHL, wo Lehmann im nächsten Jahr den Master of Business Administration machen will, verzichtet man schon länger auf Frontal-unterricht und setzt viel stärker auf interaktive Lehr- und Lernmethoden in kleinen Gruppen. Um das wissenschaftsbasierte Arbeiten an konkreten praktischen Fragestellungen zu intensivieren, sieht die HHL im Konzept des Flipped Classroom einen Ansatz, um die für eine anspruchsvolle akademische Qualifizierung unverzichtbaren Präsenzphasen für die Studierenden noch spannender und ertragreicher zu gestalten.
Gemeinsam mit einem Team internationaler Kollegen, unter anderem dem Innovationsforscher Professor John Bessant, PhD, von der University of Exeter, führt Professor Dr. Andreas Pinkwart am Lehrstuhl für Innovationsmanagement und Entreprenership hierzu Experimente durch. Dabei geht es darum, wie sich Lehr- und Lerninhalte zwischen Klassenraum und Selbststudium anders verteilen und neue Möglichkeiten für forschendes Lernen schaffen lassen. In dem Maße, in dem die Wissensvermittlung durch die neuen Medien in Form des Selbststudiums erfolgt, entwickelt sich der Hörsaal stärker zum Labor, in dem das Wissen an konkreten forschungs- und praxisbezogenen Fragestellungen vertiefend behandelt werden kann. Die Wissensvermittlung erfolgt unter anderem durch interaktive eLearning-Module, die etwa in Zusammenarbeit mit dem Spezialisten Lecturio erstellt werden.
Bessere Qualität, mehr Spaß
Doch nicht alle Studierenden kommen mit dieser selbstbestimmten Art des Lernens gleich gut zurecht. "Wie bei allem was neu ist, wehte auch uns Skepsis entgegen", sagt die HHL-Dozentin Dr. Nagwan Abu El-Ella. "Wir haben festgestellt, dass sich Studierende – besonders in den Vollzeit-Masterklassen – zum Teil überfordert fühlen. Daher müssen wir Sorge dafür tragen, dass die Arbeitsbelastung am Ende nicht höher ist als vorher." Was die Nachwuchswissenschaftlerin aber mit Sicherheit sagen kann: "Die Qualität der Arbeitspräsentation sowie der Abschlussarbeiten hat sich seit Einführung des Flipped-Classroom-Konzeptes offensichtlich verbessert." Zudem hätten viele Studierende in ihren Evaluationsbögen angegeben, dass die Klassen, in denen Flipped Classroom angewendet wird, bereichernder seien als andere Kurse und vor allem mehr Spaß brächten.
Lernen nach amerikanischem Vorbild
Lehrmethoden haben sich in den letzten Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten radikal gewandelt. Grundschüler sitzen mittlerweile auf dem Boden im Kreis und erlernen ihr Wissen mithilfe von Tablets auf spielerische Art und Weise. In Schulen dürfen sich Kinder ihren Lehrplan selbst zusammenstellen und in der akademischen Ausbildung den Unterrichtsstoff gleich zu Hause am Computer aneignen. Vieles kommt nun aus Übersee auch zu uns herüber.
Für Tobias Georgi von Lecturio sind die digitalen Lerninhalte die Zukunft. "Der Markt für digitale Bildung wächst unaufhaltsam", sagt er. Skeptiker überzeugt er durch die besseren Lernerfolge, denn – und das haben ganze Schüler- und Studierendengenerationen bereits für sich erfahren: Alles was man sich selbst erarbeitet, bleibt viel besser hängen als vorgekautes Wissen. Das klingt alles modern, aber wird den Studierenden damit nicht zu viel Verantwortung zugemutet? Immerhin sind sie diejenigen, die das Wissen später benötigen. "Studierende werden heute nicht mehr als Roboter gesehen, die den Unterrichtsstoff 90 Minuten lang mitschreiben und wiederkäuen", sagt Martin Schlichte, HHL-Absolvent und Gründer von Lecturio. Ziel sei es, so der Experte, die jeweiligen Stärken der Studierenden besser zu berücksichtigen und möglichst individuell auf jeden einzelnen einzugehen.
Differenzierteres Wissen und ganzheitliche Einordnung sind gefragt
Aufgrund von Flipped Classroom verbringt Katrin Lehmann nun mehr Zeit vorm Computer. Ein Großteil der Lehrangebote ist online, ohne Internet wäre sie quasi aufgeschmissen. Sie selbst empfindet das nicht als Nachteil. Im Gegenteil. Die Mischung macht‘s. Während bei der traditionellen Präsenzlehre ein hoher Zeitanteil auf die Wissensaufnahme an der Hochschule und das reflektierende Selbststudium entfällt und beim reinen eLearning der persönliche Kontakt ganz verschwindet, bietet Flipped-Classroom-Learning eine gute Mischung aus beidem.
"Ich kann den Lehrenden in den Präsenzveranstaltungen direkt befragen und lernen, das immer differenzierte Wissen besser hinterfragen und einordnen zu können," sagt die Studentin. Sie schätzt zudem den Wissensschatz, den ihr digitalisierte Bildungsangebote bieten. Denn gerade in der komplexer werdenden Welt, ist immer differenziertes Wissen gefragt. Studien besagen, dass Arbeitnehmer vor 30 Jahren noch rund drei Viertel des nötigen Fachwissens im Kopf haben mussten, um ihm Job zu bestehen, heute sind es nur noch zehn Prozent. "Ich lerne, wo ich Informationen zu einem bestimmten Thema finden kann", sagt Lehmann.
Vom Wissensvermittler zum Coach
Flipped Classroom verändert nicht nur für die Studierenden die Lernperspektive, auch die Lehrenden verändern ihre Rolle. Gerade an renommierten Hochschulen haben exzellente Professoren häufig einen sehr engen Terminkalender. Mithilfe von Flipped Classroom können sie ihre vielfältigen Aufgaben in Forschung, Lehre und Transfer nicht zuletzt auch zeitlich besser bewältigen. Zudem ist auch für sie der Ertrag aus der fundierten Diskussion mit den Studierenden höher.
"Der Professor entwickelt sich in der Lehre weg vom reinen Wissensvermittler und wieder stärker hin zum Forscher und Coach, der in der Lage ist, sich in spezielle Themengebiete zu vertiefen", sagt Dr. Nagwan Abu El-Ella. Für Studierende bietet diese Lehrmethode mehr Flexibilität und mehr Eigenkontrolle über das, wie sie sich das erforderliche Wissen aneignen. Und es erhöht ihre Analyse- und Handlungskompetenz, indem das im Selbststudium erworbene Wissen im unmittelbaren Diskurs mit Wissenschaft und Praxis kritisch hinterfragt zum Einsatz gelangt.
Auf dem Weg zu forschendem Lernen nach Humboldts Ideal
Dabei eröffnen die neuen Medien die Möglichkeit, dem Humboldt’schen Ideal des forschenden Lernens in der Gemeinschaft von Lehrenden und Studierenden wieder näher zu kommen. Für die Studierenden kann der gesamte Forschungszyklus von der im Idealfall selbstgewählten Ausgangsfrage über die Formulierung von Untersuchungsfragen und Hypothesen sowie die Auswahl und Durchführung geeigneter Methoden bis hin zur kritischen Reflektion und Präsentation der Ergebnisse kognitiv und emotional erfahrbar gemacht werden. Durch die Möglichkeit zur Selbstreflektion der Wissenschaft wie des einzelnen Subjekts mithilfe der Wissenschaft und die kritische Reflektion auf das Allgemeinwohl werden die Voraussetzungen für künftiges verantwortliches Handeln in der Wissenschaftsgesellschaft geschaffen.
Nach Ansicht von Prof. Andreas Pinkwart bietet die im engen Zusammenwirken von Studierenden und Lehrenden gestaltete Präsenzlehre mehr Raum zur Förderung sozialer und interkultureller Kompetenzen wie auch zum Reverse Learning. Durch die Ausrichtung der Forschungsvorhaben auf für Dritte interessante Erkenntnisse wird auch die Praxisrelevanz der Forschung gestärkt. Beides erweist sich etwa für wissenschaftliche Hochschulen für Unternehmensführung mit Blick auf die späteren Führungsaufgaben des Managementnachwuchses als besonders zielführend.
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