Hinterm Deich

Modellprojekt: Unterricht per Headset und Chat

Kiel, April 2011 - "Bitte lauter sprechen", fordert Gerrit seinen Mitschüler Nils zu Beginn der Englischstunde auf. Gerrit sitzt in einem Klassenzimmer auf Hallig Hooge, Nils hingegen in der Schule des Nachbar-Eilands Langeness. Mit 13 weiteren Fünft- bis Neuntklässlern auch von Oland, Gröde und Nordstrandischmoor sind die zwei Jungs Teil eines Modellprojekts für eLearning, das bundesweit seinesgleichen sucht.




Nach einer zunächst auf zwei Jahre befristeten Pilotphase solle das Online-Angebot für Englisch nach den Sommerferien "in den Regelbetrieb gehen", kündigt Lehrer Jens Lemke an. Das habe das Bildungsministerium in Kiel soeben entschieden. Der Anglist und Pädagoge ist Angehöriger des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen (IQSH). Von seinem Schreibtisch in Kronshagen bei Kiel aus loggt er sich von montags bis donnerstags jeweils zu einer Schulstunde für seine Westküsten-Zöglinge ein. Damit alle zügig mitarbeiten können, hat die Bad Segeberger Firma "Filiago" als Sponsor Satellitenschüsseln für schnelles Internet auf den Halligen montiert. Die Laptops stellt das IQSH.


Über Headset und Chat miteinander verbunden

Die Teilnehmer sind zweigleisig miteinander verbunden: schriftlich in einem Chat, akustisch mit Hilfe eines Headset, das über Lautsprecher und Mikro verfügt. Zumindest ein Kommunikationsstrang funktioniert immer, falls die Technik an einer Stelle doch mal hakt. Welche inhaltlichen Vorteile die Kombination beider Mittel hat, zeigt eine Übung zum Steigern von Adjektiven. Etwa mit "young". Dazu werden im Chat-Feld mal eben die Geburtsdaten aller Schüler eingeblendet. Schon können diese abwechselnd Sätze mit sich selbst als Beispiel bilden, wer von ihnen jünger als jemand anders ist.

Die Sprech-Kompetenz stellt Lemke in den Vordergrund. Vor allem daran habe es auf den Halligen gehapert, weil die Schüler dafür vor Ort zu wenige Partner hätten, schildert der Pädagoge die Entstehungsgeschichte des virtuellen Klassenzimmers. Zu Tage traten die Defizite, wenn der Nachwuchs aus dem Watt nach dem Hauptschulabschluss auf weiterführende Schulen auf dem Festland wechselte.


Nach den Osterferien sollen die Hallig-Kids sogar mehr bekommen als Gleichaltrige hinterm Deich: Unterstützung durch Muttersprachler einmal pro Woche. Auf einer EU-Tagung in Lissabon hat Lemke das eLearning-Projekt vorgestellt - und solches Interesse geerntet, dass Schulen aus London und Cornwall anboten, regelmäßig Schüler zur Hallig-Stunde dazuzuschalten.

Höhere Lerneffekte

Selbst ohne dieses I-Tüpfelchen schätzt Lemke den Lerneffekt höher ein als im herkömmlichen Präsenz-Unterricht: "Bei 15 Schülern im Vergleich zur Regelklassengröße von weit über 20 ist die Kontaktrate beim eLearning viel intensiver." Er überschlägt, dass die Redezeit für jeden einzelnen um 40 Prozent höher sei. Aufgefallen ist dem Pädagogen, dass die Unsichtbarkeit gegenüber Mitschülern "von einigen als Schutzraum wahrgenommen wird: Egal, ob jemand einen Pickel hat oder rot wird - er traut sich trotzdem mitzumachen, weil er weiß, dass er keine Blicke auf sich zieht."

Viele Wortwechsel werden zur individuellen Nachbereitung mitgeschnitten - was aus Sicht Lemkes obendrein diszipliniert: "Weil die Schüler wissen, dass wir aufzeichnen, hat die Beteiligung für sie eine hohe Verbindlichkeit." Dass man sich nicht sieht, verlange an anderen Stellen aber auch nach Kompensation: "Man muss als Lehrer häufiger als im Normalfall einen Impuls für Interaktion setzen". Etwa durch eine Kurz-Umfrage, bei der jeder auf Englisch erzählt, was es gerade zum Frühstück gab. Teils übernehmen Schüler dabei als Moderatoren die Leitung.


Trotz aller Hilfen aus der Trickkiste: "Ohne persönliche Bekanntschaft würde das Modell nicht funktionieren, schon weil die Lehrerpersönlichkeit dann Schaden nähme", meint Lemke. Zweimal pro Jahr trifft er sich mit allen Schülern zwei Tage lang auf einer der Halligen zu "Realbegegnungen".

eLearning für die Halligen wird Naturwissenschaften ausgedehnt

Fragt man diejenigen, für die das ganze gemacht ist, kommt nur positive Resonanz: "Ich spreche nicht nur viel mehr Englisch als im früheren Unterricht, sondern habe auch meine PC-Kenntnisse stark verbessern können", benennt zum Beispiel Lone einen doppelten Lerneffekt. Jorn-Rasmus gibt zu Protokoll: "Früher habe ich die meisten Regeln nicht verstanden - beim eLearning werden sie besser erklärt."


Und Nils hat auf die Frage, was sich noch verbessern ließe, eine Antwort mit der beruhigenden Erkenntnis, dass es auch in der virtuellen Welt menschliche Schwächen gibt: Er wünscht sich höchstens, "dass man nicht dazwischenruft, außer man ist dran." Und was in den Gefilden wohl das glaubwürdigste Lob ist: Keiner führt als Kritik an, dass die Online-Stunden im Gegensatz zum sonstigen Unterricht bei Landunter nicht ausfallen.


Da hören es die jungen Leute gern, dass das IQSH ab dem kommenden Schuljahr das eLearning für die Halligen auf die Naturwissenschaften ausdehnen will.