PISA 2003 deckt Schwächen auf
Kiel, November 2005 - Dr. Martin Senkbeil ist Mitarbeiter am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) an der Universität Kiel, das die PISA 2003-Studie in Deutschland koordiniert hat. Er beschäftigt sich mit dem Einfluss der schulischen und häuslichen Computernutzung auf die Kompetenzentwicklung der Jugendlichen und hat auch den entsprechenden Teil der neuesten PISA-Studie betreut.
"Computer machen Schüler dumm" und ähnliche Überschriften waren kürzlich in den Medien in Bezug auf eine Auswertung der PISA 2003-Studie zu lesen. Stimmt denn das und ist die Forderung "Zurück zu Tafel und Kreide" die richtige Antwort?
Dr. Senkbeil: Diese Feststellung bezieht sich vornehmlich auf den Computer als Lernwerkzeug im Fachunterricht, weniger auf den kompetenten Umgang mit dem Computer als Schlüsselkompetenz. Richtig ist sicherlich, dass der Einsatz von Multimedia nicht per se lernunterstützend ist. Beispielsweise verfügen die lange Zeit beliebten kommerziell vertriebenen Lernprogramme oftmals über eine mangelhafte didaktische oder auch fachlich ungenügende Qualität. Entsprechend zeigen die aktuellen PISA-Daten, dass solche Programme in nahezu allen Ländern weniger als noch vor drei Jahren genutzt werden.
Unbestritten ist aber auch, dass der Einsatz von Multimedia den fachlichen Wissenserwerb in mehrfacher Hinsicht unterstützen und gegenüber traditionellen Unterrichtsformen erhebliche Vorzüge aufweisen kann. Computer-Simulationen ermöglichen beispielsweise dem Schüler, selbstständig Experimente zu planen, durchzuführen und bei Bedarf beliebig oft zu wiederholen. Dies bietet die Chance zu einem individuellen und selbstregulierten Wissensaufbau, wie er im Rahmen eines Real-Experiments oftmals gar nicht möglich wäre. Entscheidend ist also ein didaktisch geplanter Einsatz neuer Medien, beispielsweise zur gezielten Unterstützung einer selbstgesteuerten Wissensaneignung. Aus meiner Sicht gibt es keinen einsichtigen Grund, auf diese Vorteile verzichten zu wollen.
Was sind denn die wichtigsten Ergebnisse aus PISA 2003 im Zusammenhang mit den Computer- und Internetkenntnissen deutscher Schüler im internationalen Vergleich?
Dr. Senkbeil: Ein wesentlicher Befund der PISA 2003-Studie besteht darin, dass die Schule in Deutschland nur geringe Bedeutung für den Erwerb computerbezogener Kenntnisse von Jugendlichen besitzt. Über eine regelmäßige Nutzung des Computers in der Schule berichten nur 21% der deutschen Fünfzehnjährigen, und gerade 10% geben die Schule als wichtigsten Ort für den Erwerb ihrer Computerkenntnisse an. Im OECD-Durchschnitt sind diese Werte etwa doppelt so hoch (39% bzw. 21%). Entsprechend zeigen Analysen für Deutschland einen erheblich geringeren Einfluss der Schule auf die (selbsteingeschätzten) Computerkenntnisse der Jugendlichen, als es z.B. in den englischsprachigen und skandinavischen Ländern der Fall ist. In diesen zeigt sich ein deutlich stärkerer Zusammenhang zwischen schulischem Rechnereinsatz und selbstzugeschriebenen Computerfähigkeiten sowie eine erheblich größere Erfahrung der Fünfzehnjährigen im Umgang mit neuen Medien.
Was bedeutet das im Vergleich zu den anderen Ländern, die in der PISA-Studie untersucht wurden?
Dr. Senkbeil: Deutschland stellt schon wie in PISA 2000 dasjenige Land unter allen OECD-Staaten dar, in dem der Computer am seltensten als regelmäßiges Lernwerkzeug eingesetzt wird. Betrachtet man nur die deutschen Schülerinnen und Schüler, lassen sich über den internationalen Vergleich hinaus folgende Ergebnisse bilanzieren: Mehr als 20 Prozent der deutschen Fünfzehnjährigen haben erhebliche Defizite im Umgang mit neuen Medien - beispielsweise fehlen ihnen technische Kompetenzen oder computerbezogene Lernstrategien, um den Computer angemessen nutzen zu können. Es besteht außerdem - ähnlich wie in den anderen in PISA erhobenen Kompetenzen - eine starke Koppelung zwischen der sozialen Herkunft der Jugendlichen und ihren Computerkenntnissen. Den Schulen in Deutschland ist es bisher nicht gelungen, Chancengleichheit in Bezug auf den Erwerb computerbezogener Kenntnisse zu gewährleisten. Über 20 Prozent Fünfzehnjährige, die Defizite im Umgang mit dem Computer zeigen, weisen auf einen dringenden Handlungsbedarf hin.
Aber es gab doch erhebliche Fortschritte bei der Computerausstattung in den letzten Jahren? Warum schneiden die deutschen Schulen dennoch im internationalen Vergleich so enttäuschend ab?
Dr. Senkbeil: Ihrer Einschätzung hinsichtlich der Verbesserungen stimme ich zu. Drei Aspekte spielen vermutlich eine Rolle: Zum ersten belegen die PISA-Daten nicht nur für Deutschland, sondern für alle OECD-Staaten, dass eine komfortable Computerausstattung der Schule nicht notwendigerweise eine häufige Nutzung neuer Medien im Unterricht nach sich zieht. Zum zweiten bereitet die flächendeckende Verbreitung bestehender innovativer Konzepte - wie der schulische Computereinsatz - oftmals erhebliche Probleme, wie der letzte Platz im internationalen Vergleich hinsichtlich der schulischen Computernutzung belegt. Zum dritten fragt PISA nur nach Daten über die Häufigkeit des schulischen Computereinsatzes. Mögliche qualitative Verbesserungen bezüglich des schulischen Computereinsatzes hierzulande werden somit bislang gar nicht erfasst.
Viele Schüler haben aber auch zu Hause Zugang zu einem Computer. Wäre das eine Möglichkeit, um das notwendige Wissen zu erwerben?
Dr. Senkbeil: Vornehmlich Jugendliche aus unteren Sozialschichten sind nicht in der Lage, sich die notwendigen Kenntnisse für einen angemessenen Umgang mit Computer und Internet autodidaktisch oder über geeignete Bezugspersonen anzueignen - auch wenn sie einen eigenen Computer besitzen. In geringerem Ausmaß trifft dies aber auch für Jugendliche höherer Sozialschichten zu. Die aktuellen PISA-Daten verdeutlichen damit auch, dass gute häusliche Zugangsbedingungen zum Computer noch keineswegs einen kompetenten Umgang mit neuen Medien bedeuten - auch wenn dies häufig implizit angenommen wird.
Die Beherrschung des Computers wird von vielen Experten als vierte Kulturtechnik angesehen, die heute - neben Lesen, Schreiben und Rechnen - für die berufliche Zukunft der Jugendlichen unerlässlich ist. Welchen Beitrag leistet dazu die Nutzung des Computers und des Internet als Lerninstrument inner- und außerhalb der Schule?
Dr. Senkbeil: Eine regelmäßige Computernutzung bewirkt ganz offensichtlich eine angemessene Umgehensweise mit neuen Medien. In Schulen mit häufigem Computereinsatz sind sehr viel weniger Jugendliche mit defizitärer Nutzung anzutreffen als in Schulen, die den Computer nur selten nutzen. Die PISA-Daten deuten an, dass bereits eine rein quantitative Zunahme der schulischen Nutzungshäufigkeit diesbezüglich positive Wirkungen nach sich ziehen könnte.
Problematisch ist jedoch, dass die Vermittlung von technischen Basiskompetenzen in deutschen Klassenzimmern derzeit kaum eine Rolle zu spielen scheint. So ist beispielsweise keinerlei förderlicher Effekt der schulischen Computernutzung auf das technische Computerwissen feststellbar. Dabei werden vornehmlich die Schülerinnen und Schüler von einer für das weitere Ausbildungs- und Berufslebenleben ausreichenden Computerbildung abgekoppelt, die sich Kenntnisse und Nutzungsmöglichkeiten im Umgang mit dem PC nicht selbst aneignen können und keine Unterstützung von Bezugspersonen wie Freunden oder Familienmitgliedern erfahren. Diese Jugendlichen sind vermehrt in den unteren Sozialschichten zu finden, aber auch in Familien mit höherem sozialen und ökonomischen Status und entsprechend komfortabler Computerausstattung zu Hause anzutreffen.
Wie bewerten Sie die "Bildungsoffensive 2006", in deren Rahmen eine Reihe von namhaften Unternehmen die mobile Lernstation "EduBook" mit einem umfassenden Paket an Lernsoftware, Anwendungsprogrammen und Hilfsmitteln für den Unterricht zu einem extrem günstigen Preis anbieten. Kann das dazu beitragen, den "Digital Divide" zu verkleinern und die Eigeninitiative zu fördern?
Dr. Senkbeil: Angesichts der PISA-Ergebnisse zur Computervertrautheit von Jugendlichen in Deutschland ist grundsätzlich jede Initiative zu begrüßen, die sich der Förderung der Computerbildung von Jugendlichen widmet. An der "Bildungsoffensive 2006" finde ich besonders begrüßenswert, dass insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien in den Blick genommen werden. Die PISA-Ergebnisse zeigen sehr eindrücklich, dass insbesondere Jugendliche aus unteren Sozialschichten im Computerwissen erhebliche Defizite aufweisen und über vergleichsweise schlechte häusliche Zugangsbedingungen zu neuen Medien verfügen.
Wenn nun genau diese Gruppe durch die "Bildungsoffensive 2006" Zugang zu dieser mobilen Lernstation erhält, stellt dies einen wichtigen Schritt zur Förderung benachteiligter Jugendlicher dar. Für einen sinnvollen und angemessenen Umgang mit dem Computer sind darüber hinaus jedoch weiterführende Hilfestellungen von außen notwendig. Den Jugendlichen müssen sinnvolle Nutzungsmöglichkeiten neuer Medien nahe gebracht und die entsprechenden Kenntnisse und Lernstrategien vermittelt werden. Hierbei sind nicht nur die Schulen, sondern auch die Eltern gefordert. Insofern sind geplante Aktivitäten der "Bildungsoffensive" wie spezielle Schulungsangebote für Eltern mindestens ebenso wichtig.