Fokus Grundschule

Austausch nicht nur für die Technik-Avantgarde

Prof. Dr. Thomas IrionSchwäbisch Gmünd, August 2020 - Die Diskussionen rund um den DigitalPakt betrachten insbesondere die weiterführenden Schulen. Bei den meisten Überlegungen bleiben die Grundschulen außen vor. Ein erhebliches Defizit in der Betrachtungsweise findet Prof. Dr. Thomas Irion, Direktor des Zentrums für Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

Wie schätzen Sie den Impact des DigitalPakts auf die Digitalisierung der Schulen in Deutschland bzw. Baden-Württemberg ein?

Prof. Dr. Thomas Irion: Der zentrale Verdienst des DigitalPakts ist in meinen Augen, dass nun auch gesellschaftlich wahrgenommen wird, dass das deutsche Bildungssystem durch die Digitalisierung vor immensen Herausforderungen steht. Nicht zuletzt die ICILS-Studie hat wiederholt gezeigt, dass Deutschland erheblichen Nachholbedarf bei der schulischen Förderung digitaler Kompetenzen hat. 
Zentral ist für mich weniger die Ausstattung der Schulen, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Bildungspolitik in Deutschland erkannt hat, wie wichtig digitale Medien und Technologien in allen gesellschaftlichen Bereichen geworden sind, welche Potenziale, aber auch Gefahren, mit der Digitalisierung verbunden sind und dass es für Schulen höchste Zeit ist, sich mit diesen Phänomenen produktiv und konstruktiv, aber auch kritisch in allen Fächern - z. B. auch in ethischen Fragestellungen - auseinanderzusetzen.

Sie sehen die Bildungsverantwortlichen also auf einem guten Weg?

Prof. Dr. Thomas Irion: Wichtiger noch als den DigitalPakt finde ich persönlich die KMK-Strategie "Bildung in der digitalen Welt", in der wichtige Ziele für den Unterricht benannt worden sind. Mit ihr kann die heranwachsende Generation dabei unterstützt werden, selbstbestimmt, aber auch  in Rücksicht auf andere Menschen in einer digital geprägten Welt zu leben, zu lernen und zu arbeiten. Zudem wird sie in die Lage versetzt, den digitalen Wandel verantwortlich mitzugestalten.
Gleichzeitig müssen auch Bildungssysteme in die Lage versetzt werden, die Digitalisierung für Bildungsprozesse zu nutzen. In der Corona-Krise haben wir einen Eindruck davon bekommen, wo digitale Medien das Lernen von Kindern und Jugendlichen unterstützen können, aber auch wo Grenzen digitaler Bildungsprozesse auszumachen sind. Für die Umsetzung dieser Ziele ist der DigitalPakt ein wichtiger Meilenstein, doch es ist sicherlich nicht der letzte.
Zentral ist es nun, seine Mittel so einzusetzen, dass kein Kind in dieser digitalen Welt allein gelassen wird und es dem Zufall überlassen bleibt, ob die erforderlichen Kompetenzen erworben werden können. Hier besteht nicht unerheblicher zeitlicher Druck, da Deutschland mit dieser Initiative sehr lange gewartet hat und durch die Corona-Krise die Digitalisierung des Alltagslebens noch einmal deutlich Fahrt aufgenommen hat.

Bisher wurden relativ wenige Mittel aus dem DigitalPakt abgerufen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Prof. Dr. Thomas Irion: Das Problem liegt meines Erachtens daran, dass der Mittelausgabe eine aufwändige Medienplanentwicklung vorangestellt wird, die von vielen Schulen derzeit nicht so einfach leistbar ist. Beim Konzept der Medienentwicklungspläne wird davon ausgegangen, dass die Schulen durch gründliche Überlegungen die Gelder pädagogisch sinnvoll verwenden. Auf diese Weise soll erreicht werden, dass die Schulen beginnen, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und nicht einfach Gelder für dann später ungenutzt oder wenig sinnvoll genutzte Hard- und Software ausgeben.
Angesichts der vielfältigen Aufgaben vor denen Schulen derzeit stehen, führt der ganze Planungsprozess natürlich zu Verzögerungen. Gerade durch Corona ist deutlich geworden, dass eine Integration digitaler Bildungsinhalte und -technologien in den Unterricht zumeist nicht aufgrund langwieriger Planungen erfolgen muss. Natürlich brauchen Schulen Unterstützung bei der Auswahl, Anschaffung und Inbetriebnahme geeigneter Geräte. Diese sollte meines Erachtens aber durch Maßnahmen erfolgen, die den gesamten Prozess begleiten.
Die Annahme, dass durch gründliche Überlegungen vor der Anschaffung die Komplexität der Digitalisierung in den Griff zu bekommen ist, führt meines Erachtens in die Irre. Es braucht eine vernünftige Schulentwicklung mit digitalen Medien sowie schnell im Wechsel stattfindende Phasen der Planung, der Erprobung, des Umdenkens, der Neuplanung (bzw. Adaption der Planung) etc. Die Zyklen zwischen diesen Prozessen müssen möglichst kurz sein, damit Erfahrungswerte genutzt werden können. Ich würde empfehlen hier auf zirkuläre Modelle wie etwa im Design Thinking zurückzugreifen.

Nun steht ein neuer Geldsegen für die Schulen an. Wo liegen aus Ihrer Sicht gegebenenfalls Schwächen oder Gefahren in diesem Angebot?

Prof. Dr. Thomas Irion: Für die oben genannten Prozesse brauchen die Schulen natürlich externe Unterstützung durch speziell für die Komplexität dieser Vorgänge ausgebildete Expertinnen und Experten, zum Beispiel durch wissenschaftlich zertifizierte Expertinnen und Experten für Digitale Bildung (insbesondere: Medienbildung, Informatik, digitale Schulentwicklung und digitales Lernen). Diese Digitalen Bildungsmanagerinnen und -manager müssen die Schulen im gesamten Prozess begleiten und nicht nur bei der Planung.
Es geht ja nicht nur um die Frage, welche Ziele mit der Ausstattung verbunden sind, sondern auch um die Frage der fachdidaktischen Umsetzung, der schulinternen Lehrerfortbildung, der medienpädagogischen Information von Lehrkräften und Eltern, der Begleitung von Innovationskonzepten usw. usf.. 
Kein Mensch würde auf die Idee kommen, guten Physikunterricht durch einen Physikentwicklungsplan abzusichern. Guter Physikunterricht braucht wissenschaftlich und praktisch ausgebildete Lehrkräfte. Diese können wir nicht aus dem Hut zaubern, aber wir brauchen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die wissenschaftlich und praxisbezogen für diese Aufgabe ausgebildet werden. Hierzu sind geeignete Studiengänge an der Schnittstelle Bildungswissenschaften und Fachdidaktik zu entwickeln.

Was bräuchte es aus Ihrer Sicht, damit die Digitalisierung unserer Schulen zügig voran schreitet?

Prof. Dr. Thomas Irion: Innovative und gelungene Umsetzungsformen an Schulen müssten als Vorbild für andere Schulen genutzt werden. Gerade Digitalisierungsprozesse scheitern häufig einerseits an der fehlenden Vorstellungskraft, was möglich ist, aber andererseits auch an ganz kleinen Details, die den ganzen Prozess behindern. Hier ist der Austausch zwischen den Schulen zentral. Zu diesem Zweck sind sowohl Online-Plattformen, wie auch Vor-Ort-Kongresse und Tagungen wichtig.
Hier gibt es schon sehr gute Ansätze im Land, die nun in die Fläche gebracht werden müssen und sich insbesondere nicht nur an die Technik-Avantgarde richten, sondern insbesondere auch die Breite der Lehrkräfte erreichen. Übrigens hat die Corona-Krise gezeigt, dass insbesondere die Grundschulen im Feld der Digitalisierung weit hinterher hinken. Wichtig ist aber zudem natürlich die konsequente Unterstützung von Schulkonzepten, die sich nicht nur auf die Vermittlung traditioneller Inhalte mit konventionellen Methoden konzentrieren, sondern die als treibende Kraft Konzepte für eine zeitgemäße Bildung im 21. Jahrhundert entwickeln.

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Ein Paket für gelungene digitale Schule - fünf Umsetzungsmaßnahmen:

  1. Gründung einer Expertise-Kommission zur Formulierung klarer Zielstellungen für Baden-Württemberg. Die Ziele müssen so offen sein, dass sie aktuelle Entwicklungen aufgreifen können und so geschlossen, dass die Entwicklung von Kompetenzen für die digitale Welt nicht dem Zufall überlassen bleibt. Die KMK hat hier mit ihrer Strategie Bildung in der digitalen Welt eine erste sehr sinnvolle Vorlage geliefert, die im Anschluss von den Fächern, der Medienpädagogik, der Informatik etc. diskutiert wurde. Diese Zielvorgaben und Diskussionen sind aufzugreifen und in einen spezifischen Rahmenplan zu überführen, der als Grundlage für die fachliche Umsetzung dienen kann. Es ist zu überlegen, ob dies nur in den Bildungsplänen des Landes geschieht, oder auch in einem zusätzlichen Plan, dass häufiger aktualisiert werden kann. Sinnvoll wäre eine Strategie bis zum Jahr 2025, die auch spezifische Meilensteine vorgibt, die angestrebt werden. 
  2. Einrichtung von Studiengängen Digitale Bildung zur Ausbildung von wissenschaftlich und praktisch qualifizierten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die verhindern, dass die Digitalisierung überoptimistisch oder überkritisch gesehen wird und die in der Lage sind, auf der Basis fundierten Wissens und Erfahrungen andere Lehrkräfte und Schulen sinnvoll zu begleiten.
  3. Entwicklung eines Scouting-Systems zur Identifikation besonders gelungener Maßnahmen, die als Leuchturm-Schulen eine besondere Förderung für die Weiterentwicklung erhalten und zudem für die Durchführung von Lehrerfortbildungen genutzt werden können. Dabei sind insbesondere solche Schulen zu berücksichtigen, die tolle Arbeit leisten, bislang aber noch nicht im Fokus sind.
  4. Einrichtung eines Think Tanks für Digitale Bildung, in dem die besten Leute aus Baden-Württemberg aus Wissenschaft und Praxis in Kooperation mit anderen Akteuren des Landes, Visionen für digital unterstützte Unterrichtskonzepte entwickeln. Die Umsetzung der Visionen sollte in Design Thinking-Prozessen realisiert werden, wobei Mittel zur Verfügung stehen sollten, um Prototypen für digitale Tools zu erstellen und zu erproben.
  5. Einrichtung von spezifischen Forschungslabs zur kritischen Erprobung der Alltagstauglichkeit und Übertragbarkeit der entwickelten Konzepte

Ziel all dieser Maßnahmen muss in jedem Fall immer auch die Entwicklung niederschwelliger Konzepte für digitale Bildungsmaßnahmen sein, welche von Lehrkräften umsetzbar sind, die ihren Arbeitsfokus nicht auf die Digitalisierung, sondern auf die fachliche Förderung von Schülerinnen und Schülern legen.