Selbstorganisiertes Lernen mit "Großmutter-Faktor"
Berlin, August 2010 - Was passiert, wenn man Kindern Computer mit Internetanschluss zur freien Verfügung stellt, ohne Kontrolle von außen und ohne feste Regeln? Die Folgen scheinen auf der Hand zu liegen: Der unbeaufsichtigte Nachwuchs surft wild im Internet, spielt und chattet, stachelt sich gegenseitig zu Unsinn auf. Gelernt wird dabei jedenfalls kaum etwas. Ganz anders sieht das der aus Indien stammende Bildungsforscher Sugata Mitra. Er proklamiert das selbstorganisierte, vom Lehrer weitgehend unabhängig Lernen in kleinen Gruppen.
Auf dem School Forum, das am 1. Dezember im Rahmen der Online Educa Berlin stattfindet, erläutert er erstmals vor deutschen Lehrern und Schulleitern seine Erkenntnisse und zeigt Perspektiven für den Unterrichtsalltag auf.
Dass Kinder Computer und Internet auf ganz unerwartete Weise nutzen können, zeigte Mitra bereits im Jahr 1999 mit seinem "Loch in der Wand"-Experiment ("Hole in den Wall"). In eine an einen Slum angrenzende Mauer im indischen Neu-Delhi installierte er einen Computer mit Internetanschluss. Die dort lebenden Kinder konnten selbstständig und ohne Aufsicht mit dem Gerät agieren.
Das Verblüffende: Bereits nach einem Monat hatten sich die Kinder nicht nur selbst beigebracht, das Gerät zu nutzen, nebenbei verbesserten sie ihre Englisch- und Mathematikkenntnisse. Mitra wiederholte das Experiment in weiteren abgelegenen Standorten in Indien und kam zu den gleichen Ergebnissen: Kinder sind vor allem in kleinen Gruppen in der Lage, selbstständig und ohne Anleitung erstaunliche Lernleistungen zu erbringen.
Lernklima im Klassenzimmern
Der mittlerweile in Großbritannien tätige Mitra hat in den vergangen Jahren seine Forschungen zum selbstorganisierten Lernen weiter vorangetrieben und nach Übertragungen auf den Schulalltag gesucht. Denn seiner Meinung nach herrscht in unseren Klassenzimmern nicht das ideale Lernklima. "Kinder wissen, dass sie sich vieles selbst beibringen können. Sie verstehen nicht, warum sie unterrichtet werden sollen, vielmehr fühlen sie sich im Klassenzimmer verunsichert."
Mitra konzentriert sich nicht nur auf experimentelle Forschung, er macht auch konkrete Vorschläge, wie in Schulen das selbstständige Lernen mit modernen Technologien realisiert werden kann. Er nennt seine Methode "Emergent Learning Systems in Education" (ELSE). Außerhalb und auch innerhalb des formalen Unterrichts lernen Kinder von fünf bis 17 Jahren mit Computern und Internet, immer gemeinsam mit ihren Mitschülern in kleinen Gruppen. "In Gruppen trauen sich die Kinder mehr zu, wollen mehr ausprobieren und freuen sich, wenn sie vor anderen ein bisschen prahlen können", so Mitra.
Lehrer als Großmütter
Die Aufsichtsperson oder der Lehrer nimmt dabei eine betont passive Rolle ein. Er hält sich im Hintergrund, gibt den Kindern weder Anweisungen, noch lenkt er sie in eine bestimmte Richtung. Lediglich eine Ausgangsfrage soll gestellt werden.
Bei deren Bearbeitung mit Hilfe von Internetrecherchen fungiert der Lehrer als eine Art Großmutter-Figur. Er behält ein Auge auf die Schülergruppen, schlichtet eventuelle Streitigkeiten, hauptsächlich aber lobt er die Kinder für ihre Lernerfolge und motiviert sie zum Weitermachen. "Kinder wachsen über sich hinaus, wenn sie ihr Wissen zeigen können", erläutert Mitra die Rolle der "freundlichen Oma" im Lernprozess.
Doch lässt sich diese Art des "Laissez-faire"-Unterrichts auch im Sinne des Lehrplans nutzen, also effektiv mit formalen Anforderungen an die Schulbildung verbinden? Positive Erfahrungen konnte Mitra an Schulen in Großbritannien machen. Hier lösten Schüler, die nach Mitras Methode lernten, mit Internetsuchmaschinen Fragen zum mittleren Schulabschluss auf eindrucksvolle Art und Weise. Mit der Zeit verbessern sich laut Mitra nicht nur die Testergebnisse dieser Schüler, sondern das Gelernte bleibt durch die Gruppenarbeit auch "länger hängen".
So verblüffend die Erkenntnisse von Mitra auch erscheinen, unter Pädagogen und Bildungsverantwortlichen gibt es einige Skepsis, wie der Wissenschaftler einräumt. "Diejenigen, die den Ansatz nachvollziehen können oder die Kinder in Aktion erleben, sind fasziniert davon. Andere reagieren eher zögerlich."
Lehrer und Schulleiter können sich bald selbst eine Meinung von Mitras Arbeit bilden. Der Wissenschaftler ist einer der Hauptredner des Berliner School Forums. Die Teilnahme an der Veranstaltung am 1. Dezember ist für diese Zielgruppe kostenfrei.
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