Lernen in der Zukunft

Schwarze Schwäne und andere Innovationen

Bonn, September 2011 - (von Dr. Jörg Sander) Dass Bildung und Wissen von Mitarbeitern mehr denn je über die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen entscheiden - das unterschreibt inzwischen fast jeder. Zugleich erweisen sich die bislang vorherrschenden Trainings als Auslaufmodelle, zumindest wenn es um die Innovationsfähigkeit von Unternehmen geht. Neues Wissen wird in Zukunft durch eine stärkere Vernetzung im eigenen Unternehmen und über Unternehmensgrenzen hinaus entstehen.




Dies ist leichter gesagt als getan. Denn dieser neue Ansatz stellt die herkömmlichen Weiterbildungssysteme grundsätzlich in Frage.


Die heutigen Weiterbildungssysteme basieren größtenteils auf Erfahrungswissen. Schulungen und Trainings geben erprobtes Know-how und bewährte Verfahren an die Lernenden weiter. Dieses Vorgehen bedeutet zugleich: Ein Unternehmen und seine Mitarbeiter betrachten wiederholt dasselbe und schließen damit andere Möglichkeiten aus.


Mit einem Bild gesprochen: Wer in seinem Leben nur weiße Schwäne gesehen hat, kann sich auch nur weiße Schwäne vorstellen. Nun gibt es außerhalb Europas jedoch durchaus schwarze Schwäne. In diesem Sinn kann ein erweiterter Wissenshorizont fast immer neue ungewöhnliche Sichtweisen und damit Innovationen ermöglichen.

Das Symbol des schwarzen Schwans haben die Autoren Nassim Nicholas Taleb und Ingrid Proß-Gill in ihrem Buch "Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse" entwickelt. Sie beschreiben darin vor allem disruptive Szenarien wie Börsencrashs und ihre Unvorhersehbarkeit. Auch Innovationen würden oft disruptiv als "schwarze Schwäne" auftreten - nach einer vorbereitenden Entwicklung über längere Zeiträume hinweg. Viele große Erfindungen waren Abfallprodukte von Projekten, die eigentlich andere Ziele hatten oder das Ergebnis eines chaotisch-kreativen Prozesses.

Raum für Experimente

Diese Erkenntnis ist vor allem für Unternehmen interessant, die in einem Umfeld tätig sind, das nach vielen Innovationen und Neuerungen verlangt. Kreative Problemlösungen lassen sich in den seltensten Fällen nach einem vorgegebenen Prozess erzielen. Doch genau hier liegt das Problem, denn in den meisten Unternehmen gibt es keinen Raum für freies Denken und Experimentieren. Arbeitspakete werden nach mehr oder minder strengen Prozessen abgearbeitet.

In homogenen Teams und nüchternen Büroräumen werden unstrittige Ansätze entwickelt. Wer etwas anderes wagt, vom vorgegebenen Pfad abweicht und daran scheitert, muss sich rechtfertigen und wird im Zweifelsfall bei der nächsten Beförderungs- oder Bonusrunde abgestraft.

Unternehmen, die von Innovationen leben, müssen in ihrer Weiterbildungspolitik deshalb umdenken, zumal die heutige Informations- und Telekommunikationstechnologie in Zeiten des Web 2.0 neue, vor allem vernetzte Formen des Lernens ermöglicht. Hinzu kommt, dass derzeit die sogenannte "Generation Y" ins Berufsleben drängt. Die nach 1980 Geborenen sind mit den aktuellen Hightech-Trends aufgewachsen. Sie sind vielfach vernetzt und technikaffin, verfügen über eine hohe Motivation sowie Leistungsbereitschaft und übernehmen gerne Verantwortung.


Das Web 2.0 prägt diese Generation Y vor allem durch die neuen Möglichkeiten zur ständigen Vernetzung. Informationen bezieht dieser Unternehmensnachwuchs fast ausschließlich aus dem Internet - und auch dies in anderer Weise als die Generationen davor: Sie schätzen benutzergenerierte Inhalte genauso oder sogar höher ein als klassische Suchergebnisse und Inhalte von Google & Co. Mithilfe von Voice-over-IP-Services hält "Generation Y" lose Kontakt untereinander und scheut sich nicht, bei Fragen oder Problemen auf ihr jeweiliges globales Netzwerk zurückzugreifen.


Wer beispielsweise für ein Praktikum ein Zimmer in New York oder Hongkong sucht, bittet Bekannte über Netzwerke wie Facebook um Hilfe. Diese Vorgehen eröffnen für Unternehmen einen neuen, weiten Horizont für vernetztes Lernen - und stellen die herkömmlichen Weiterbildungskonzepte grundsätzlich in Frage.


In erster Linie stehen Unternehmen vor der Aufgabe Lernarchitekturen aufbauen, welche die besten Mitarbeiter zusammenführen und das Teilen von Wissen und Ideen bestmöglich fördern. Wichtiger werden zum Beispiel Partnerschaften zwischen Hochschulen und Unternehmen. Das erleichtert einerseits Studierenden den Berufseinstieg und öffnet andererseits universitäre Lehrveranstaltungen für Berufstätige.


Vor allem aber müssen Unternehmen ihre innerbetriebliche Vernetzung als zukünftig essentiellen Bestandteil des Lernens fördern. Dies kann zum Beispiel über eine offene Raumeinteilung von Büros geschehen oder über ansprechend aufbereitete Social-Media-Netzwerke mit einer hohen Interaktivität und Informationsdichte.


Öffnung über Firmengrenzen hinweg



Der größte Bruch gegenüber dem bisherigen Vorgehen liegt jedoch in der Öffnung der Ideennetzwerke über Firmengrenzen hinweg. Zudem müssen Unternehmen ihre Bildungs- und Innovationsstrukturen zunehmend auf kleine Zielgruppen oder sogar individuell ausrichten. Für die IT bedeute dies: Business as a Service ersetzt starre IT-Infrastrukturen und monolithische, oft unflexible Lernmanagement-Systeme. Nur so können über soziale Netzwerke zum Beispiel Brainstormings und Ideenbörsen mit tausenden von Teilnehmern organisiert werden, die aus unterschiedlichsten Wissengebieten und Kulturen kommen. Dazu gehören auch Marktplätze, auf denen die besten Ideen wie an einer Börse gehandelt werden.


Beispiele für einen derartigen offenen Austausch gibt es bereits. Der amerikanische Telekommunikationskonzern AT&T etwa eröffnete AT&T im vergangenen Jahr drei "offene" Innovationszentren, in denen das Unternehmen mit externen Entwicklern zusammenarbeiten will. Ziel ist es, schneller als der Mitbewerb innovative Apps für Mobilfunkgeräte auf den Markt zu bringen.


Rund 400 kleine Firmen und Start-Ups bekommen jährlich die Chance, ihre Ideen dem CTO vorzustellen und gegebenenfalls gefördert zu werden. Dieser Ansatz ist unter Co-Creation bekannt und erfordert eine gewisse Öffnung des Unternehmens, auch was technische Parameter angeht.

Eine andere Möglichkeit ist das Wissen und die Ideen großer Gruppen zu nutzen. Beim sogenannten Crowdsourcing gibt es einen offenen Aufruf an Kunden oder Mitarbeiter, sich an Problemlösungs- oder Innovationsprozessen zu beteiligen. IBM zum Beispiel organisiert riesige Brainstormings auf einer Online-Plattform. Auf diese Weise sammelt IBM Ideen, um geplante Initiativen mit Leben zu füllen. Bei diesen sogenannten "InnovationJams" bringen pro Veranstaltung mehr als 150.000 Teilnehmer aus circa 150 Ländern rund 50.000 Ideen ein.

Fünf Merkmale des Learning Enterprise 2.0

Betrachtet man nicht einzelne Maßnahmen sondern übergreifende Stellschrauben, die Unternehmen zur Verfügung stehen, zeichnen sich vor allem fünf Handlungsfelder ab:

  • Lineares Denken versagt in einer vernetzten Business-Welt immer mehr: Wir benötigen ein Denken in Perspektiven, Möglichkeiten und Zusammenhängen. Eindimensionaler Schulungen in Hotelsälen leisten dies nicht mehr oder nur sehr begrenzt.
  • Mitarbeiter werden zukünftig nicht mehr vorstrukturierte Bildungsprogramme durchlaufen, sondern gestalten selbst individuelle Entwicklungspläne und deren Inhalte. Umgekehrt vertrauen Unternehmen auf die Gestaltungskompetenz des Einzelnen und stellen dafür geeignete Orte und Freiräume zur Verfügung.
  • Lernen und Wissen braucht externe Patenschaften. Dazu gehören vor allem Kunden, Lieferanten, Wettbewerber, Hochschulen. Die verschiedenen Angebote auf dem Bildungsmarkt werden sich verändern: In der Zukunft wird Wissen kooperativ verwaltet, vermittelt und erworben. Vor allem müssen Unternehmen zielgerichtet in Kooperationen mit Hochschulen investieren.
  • Die Bildungs- und Innovationsstrukturen der Unternehmen müssen grundsätzlich auf den Prüfstand. Flexibel gestaltete Bildungsketten sind auf kleine Zielgruppen oder auf individuelle Anforderungen ausgerichtet. Business as a Service (BaaS) ersetzt proprietäre IT-Infrastrukturen und monolithische, oft unflexible Lernmanagement-Systeme.
  • Die Kostenstruktur wird sich wandeln. Die hohen Fixkosten einer weitläufigen Verwaltungsstruktur und komplexer IT-Infrastrukturen werden sich stark verringern. Im Gegenzug steigen Kosten für individuelle Beratung und eine flexible IT-Unterstützung, die immer mehr von extern als von intern bezogen wird.