Digital-Status

Digitalisierungsinitiative: Niederschmetternde Realitäten

Stuttgart, August 2020 - Zumindest im Südwesten ist die Zahlenbasis zum Thema schulische Digitalisierung mager. Viele Daten stammen aus dem Vor-Smartphone-Zeitalter und sind damit hoffnungslos veraltet. Die Corona-Pandemie hat dem digitalen Arbeiten im schulischen Kontext einen Schub verpasst – doch wie sieht es damit an den Schulen tatsächlich aus?

Eine Digitalisierungs-Initiative zukunftsorientierter schulischer Interessensvertretungen aus Berufsschullehrerverband, GEW, Grundschulverband, VBE und Verein für Gemeinschaftsschulen hat in einer umfassenden Abfrage den aktuellen Status Quo der Digitalität an Baden-Württembergs Schulen aufgenommen. Die Ergebnisse sind niederschmetternd.

300 in drei Stunden, über 1.000 binnen eines Tages – so viele baden-württembergische Schulleitungen haben sich - mitten im Endspurt eines hochanstrengenden Corona-Schuljahres - die Zeit genommen, um über den Status-Quo ihrer schulischen Digitalisierung Auskunft zu geben. Der Schmerz ist groß beim Thema Digitalisierung!

Mit ihrer Abfrage adressierte die Initiative alle staatlichen Schulen in Baden-Württemberg. Über 2.000 Schulen über alle Schularten hinweg haben sich beteiligt. Von knapp 1.500 lagen vollständige, auswertbare Datensätze vor. "Die Diskussion darüber, wie sich unsere Schulgemeinschaften der digitalen Welt öffnen können, bewegt sich zu oft im Bereich von Spekulation und anekdotischem Hörensagen", beschreibt Oliver Hintzen, stellvertretender Landesvorsitzender des VBE BW, die Motivation der Verbands-Initiative. Solide Fakten für eine evidenzbasierte Betrachtung fehlten bislang - sowohl auf allen Schulverwaltungsebenen, als auch bei den Schulträgern.

Angesichts der drängenden Fragen rund um die Schule@Corona wurden auf Drängen der Interessensvertretungen schulischer Stakeholder endlich wichtige erste Schritte gemacht, um die Schulen digital voran zu bringen. Die Vereinfachung des Zugangs zu Mitteln aus dem Digitalpakt geht in die richtige Richtung. "Wir freuen uns, dass unsere Initiative hier einen positiven Impuls setzen konnte – doch Geräte alleine reichen nicht, wir brauchen auch eine zeitnahe und hochwertige Befähigung aller Beteiligten für das digitale Arbeiten an unseren Schulen", sagt Doro Moritz, Vorsitzende der GEW BW.

Trotz Freude über Endgeräte für besonders Bedürftige, darf man die weitere Perspektive nicht aus den Augen lassen: Moderne Elektronik ist innerhalb weniger Jahre veraltet und muss kontinuierlich gewartet werden. "Wir brauchen eine Perspektive, wie wir einen nachhaltig guten Digital-Status der Schulen etablieren – dazu gehört, dass die Wartung der Technik vor Ort in professionelle Hände gelegt wird", erklärt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen BW, als Forderung der Initiative.

Auch bei der Funktionalität der mittlerweile vom Kultusministerium lancierten Tools ist Luft nach oben. "Die Threema-Lösung des KM lässt die wesentlichen Akteure von Schule, nämlich die Schülerinnen und Schüler, außen vor - dabei müssten wir gerade hier auf schnelle und einfache Kontaktwege zugreifen", sagt Thomas Speck, Vorsitzender des Berufsschullehrerverbands BLV BW.

Auch Moodle ist als Anwendung für große Teile der Schulwelt zu kompliziert und gerade für die Jüngsten an den Schulen ungeeignet: "Die Idee von Barrierefreiheit muss bei der Digitalisierung von Schule mitgedacht werden, die Schulwelt besteht aus mehr als den Gymnasien", rügt Prof. Thomas Irion, Vorstandsmitglied des Grundschulverbands BW. Insbesondere während der Schulschließung wurde deutlich, dass viele der aktuellen Landeslösungen nicht grundschulgerecht sind. Dass die besonderen Anforderungen des Grundschulunterrichts bei vielen Überlegungen zur Digitalisierung nicht angemessen berücksichtigt werden, ist aus Sicht der Betroffenen ein massives Defizit. 

Die aktuellen Zahlen zur Digitalität von Schule in Baden-Württemberg sind ernüchternd: „Der genaue Blick auf die Schulrealität zeigt, dass selbst die angeblichen Vorreiter in diesem Thema bestenfalls Einäugige unter Blinden sind“, sagt Volker Arntz, Sprecher Netzwerk Schule im Verein für Gemeinschaftsschulen BW e.V., der die Abfrage federführend begleitet. Selbst im beruflichen Bereich stehen lediglich an einem Zehntel der befragten Schulen Endgeräte in einer 1:1-Ausstattung zur Verfügung. Unter der Annahme, dass digitalisierter Unterricht erst möglich ist, wenn sich maximal zwei Lernende ein Endgerät teilen, seien aktuell nur etwa fünf Prozent der Stichprobe von über 2.000 Schulen in der Lage, digitalen Unterricht zu leisten.
Dazu kommt die Frage der Internetperformance: Zwar verfügt ein Großteil der Schulen über eine Breitbandverbindung, aber nur 7,5 Prozent davon sind mit Hochgeschwindigkeitsinternet ausgestattet. Zudem ist in drei Vierteln der befragten Schulen die pädagogische Programmfläche zu unter 80 Prozent mit Netzzugängen via LAN/WLAN versorgt – eines von fünf Klassenzimmern dieser Schulen hat keinen Internetanschluss. Wo eine Konnektivität gegeben ist, reicht bei knapp zwei Dritteln der Befragten die Bandbreite für Unterrichtszwecke nicht aus.

Statt der Digitalisierung analogen Lernverständnisses bedarf es nun endlich der Entwicklung eines neuen Verständnisses von Schule und eines schulischen Mindsets für das digitale Zeitalter. Die Bildungsforschung beschreibt dies im 4-K Modell. Gemeinschaftsschul-Rektor Matthias Wagner-Uhl erklärt es so: "Wir müssen in den Schulen eine echte Kultur der Digitalität entwickeln, die genau jene Kompetenzen fokussiert, die für die Zukunft im 21. Jahrhundert von herausragender Bedeutung sind, nämlich Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken".