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Informelles Lernen im Netz

Marl, August 2005 - Wenn man die - mögliche - Bedeutung des Internet für Lernen bzw. Wissensvermittlung und Kompetenzerweiterung betrachtet, reicht es bei weitem nicht aus, sich auf das organisierte Lernen bzw. das Lernen in Organisationen zu begrenzen. Die Rolle des nicht organisierten oder besser: des informellen Lernens im Zusammenhang mit elektronischer Mediennutzung lässt sich mit Blick auf ein anderes und nach wie vor das Leit-Medium unserer Alltagskultur verdeutlichen, nämlich das Fernsehen.




Auch dessen Entwicklung und Ausdehnung war von einer pädagogischen Vision beseelt, nämlich ein ideales Medium für gezielte Wissensvermittlung und Lernangebote mit ungeheurer Breitenwirkung zur Verfügung zu haben. Folgerichtig wurden die Dritten ARD-Programme in den 60er Jahren zunächst als Studium- und Akademie-Programme gestartet. Bis auf wenige Reste ist heute von dieser Art eines unterrichtenden Fernsehens nichts mehr übrig geblieben.


Doch heißt das nicht, das Fernsehen hätte keine Bedeutung mehr für Bildung und Lernprozesse. Im Gegenteil: Jeder weiß, wie sehr unser Weltverständnis, unsere Leitbilder, Orientierungen und unser Alltagswissen vom Fernsehen geprägt sind. Auch der gegenwärtige Boom an Quizsendungen und Wissensmagazinen zeigt, wie stark selbst Wissensangebote des Fernsehens von den Zuschauern genutzt werden. Doch eben nicht in Formen und Formaten lernzielorientierter Unterweisung.


Nun ist das Internet zweifelsohne nicht mit dem Fernsehen gleichzusetzen und eröffnet mit Möglichkeiten interaktiven Zugriffs und direkter Kommunikation neue Horizonte. Dennoch darf auch hier nicht der Blick davor verschlossen werden, dass die breiteste Nutzung des Internet außerhalb formalisierter Bildungsangebote erfolgt, nämlich im Bereich des so genannten informellen Lernens.


Einige Daten sollen dies verdeutlichen:

Laut des Berichtssystems Weiterbildung haben im Jahr 2000 43% aller Erwachsenen zwischen 16 und 69 Jahren an organisierten Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen; im Bereich beruflicher Bildung waren dies 29%. "eLearning" bzw. Internet-basierte Lernangebote wurden Anfang 2002 von 11,6% aller über 13-Jährigen zumindest einmal genutzt2; bei den Beschäftigten liegt diese Rate zwischen fünf und zehn Prozent (je nach Betriebsgröße). Auch wenn dieser Nutzungsanteil für das "elektronische Lernen" nicht zu unterschätzen ist und bis heute sicherlich noch zugelegt haben dürfte, so lässt sich festhalten: Der Anteil des eLearning an der gesamten Weiterbildung ist nach wie vor gering. Und: In den letzten Jahren ist die Teilnahme an beruflicher und allgemeiner Weiterbildung sogar gesunken.


Eine ganz andere Entwicklung lässt sich im Bereich der Internet-Nutzung beobachten: Gerade im letzten Jahr ist hier die Nutzung noch einmal kräftig angestiegen, so dass inzwischen über die Hälfte aller Erwachsenen (ab 14 Jahre) zumindest gelegentlich das Internet nutzt, und bei den Jugendlichen sind es bereits fast 90%. Dabei dominiert nach wie vor die Informationssuche: Während Unterhaltungsangebote lediglich zu 11% regelmäßig aufgesucht werden, sind es im Bereich Wissenschaft und Forschung 28%, und auch bei allen Service-, Gesundheits- und Kulturthemen lassen sich hohe Nutzungszahlen verzeichnen.


Resümierend lässt sich daher feststellen, dass im Internet Kommunikation, Information und Wissensvermittlung dominieren - allerdings nicht im Rahmen curricular bzw. formell organisierter Angebote. Das Lernen oder zumindest lernrelevante Aktivitäten im Internet sind vor allem informell.


Auch wenn sich valide Größenordnungen in diesem Bereich kaum exakt definieren lassen, so wird der Anteil des informellen Lernens gegenüber dem formalisierten Lernen auf ca. 70% geschätzt, mit gleichen Relationen übrigens im Bereich der beruflichen Bildung. Und gerade für das Internet - wie für das mediale Lernen insgesamt - dürfte dieser Anteil eher noch größer sein.


Sicherlich stellt sich an dieser Stelle die Frage, was denn unter informellen Lernen überhaupt zu verstehen ist. Zunächst einmal umfasst es alles Lernen außerhalb formalisierter, d.h. extern organisierter, institutionalisierter Bildungskontexte. Damit ist es der "dominante Lerntypus der alltäglichen Lebenserfahrungen" (Dieter Kirchhöfer), das ursprünglich kindliche Lernen und für Günther Dohmen sogar das "eigentliche Lernen fürs Leben". Das Lernergebnis lautet dementsprechend: Kompetenz fürs Leben ("Life-skills").


Informelles Lernen ist konnotiert mit anderen "weichen" Lernkategorien wie etwa: selbstgesteuertes Lernen, exploratives Lernen, Lernen am Arbeitsplatz, Erfahrungslernen, implizites Lernen, Alltagslernen bis hin zu Sozialisation und Entwicklung generell (die ja ohne Lernprozesse nicht stattfinden kann).

Was informelles Lernen konkret beinhaltet und möglicherweise auch bewirken kann, lässt sich nur im jeweils konkreten Fall beantworten. Daher an dieser Stelle einige Beispiele:

Das erste Beispiel stammt aus dem Projekt-Zusammenhang "LERNET",
wo unter dem Titel "HALMA" ein virtueller Handwerksbetrieb konstruiert wurde, um vernetztes unternehmerisches Denken und Handeln simulieren und so trainieren zu können. Auf einer eher spielerisch angelegten ersten Ebene können Parameter wie Führungsverhalten, Arbeitszufriedenheit oder Marketing mit Auftragslage und Beschaffung kombiniert werden, um so einen Eindruck vom vernetzten Wirkungsgefüge betrieblicher Faktoren und Abläufe zu erhalten.


Diese informelle Lernebene kann dann, bei weitergehendem Interesse, mit einer zweiten Ebene formalisierter Lernangebote verknüpft werden. Das Beispiel verdeutlicht eine generelle Tendenz bei Online-Angeboten zur beruflichen Bildung: nämlich die Verknüpfung von eLearning im engeren Sinne mit informellen Lernumgebungen, die meines Wissens in ihrer Qualität und Wirkungsweise bislang kaum evaluiert wurde.


Als zweites Beispiel lässt sich der sog. "Wissensboom" im Fernsehen anführen, der ja zumeist im Format zahlreicher Wissensmagazine in Erscheinung tritt und von überwiegend aufwändigen Web-Angeboten begleitet wird. Ob "Quarks & Co.", "Galileo" oder "Lexi TV":


Das Internet hat hier die Funktion der Vertiefung, des begleitenden Service, z.T. auch der Kommunikation mit Fachexperten oder anderen Zuschauern. Häufig stehen populäre Themen im Mittelpunkt, die Texte sind leicht rezipierbar und werden aufgelockert durch vielfältiges Bild- und anderes Anschauungsmaterial sowie interaktive Illustrationen. Den Nutzern wird damit ein angenehmes "Flanieren" durch eine speziell für das Internet aufbereitete Wissenswelt ermöglicht.


Eine unmittelbare Verknüpfung mit formellen Lernangeboten findet hier in der Regel nicht statt (im Unterschied zu entsprechenden Fernsehangeboten etwa in England oder in skandinavischen Ländern).


Auch das letzte Beispiel bewegt sich im Bereich der Kommunikation: Es ist einer der zahllosen Chats, wie sie überall im Internet zu finden sind, nämlich das sich recht hoher Beteiligung erfreuende Online-Angebot zur WDR-Sendung "Zimmer frei", und zwar die sog. "Online-WG". Die im Screenshot beispielhaft aufgeführten Dialog-Ausschnitte machen aber eher auf Grenzen einer ziellos selbstgefälligen Kommunikation im Netz aufmerksam: Belanglose Satzfetzen werden in selbstreferenzieller Redundanz aneinander gehängt und es stellt sich die Frage, was hier - außer vielleicht einer gewissen Geschicklichkeit im Umgang mit eben genau diesen Kommunikationsformen - überhaupt an Lernen stattfindet.


Damit werden auch Grenzen des informellen Lernens im Netz deutlich: Es neigt zur Reproduktion von Kommunikationsroutinen und bestehenden Defiziten, zur "Bequemlichkeit" und mangelnder Reflexivität. Sein Ertrag hingegen ist sehr stark abhängig vom Lernertypus und vom individuellen Kommunikationsverhalten, von der konkreten Nutzungssituation und natürlich von den Möglichkeiten, die das jeweilige Angebot bereitstellt.

Hieraus lassen sich nun Konsequenzen ableiten, die auf eine stärkere Verknüpfung von formellem und informellem Lernen abzielen. Sie lauten:

  • Einbeziehung (Thematisierung) und Qualifizierung informellen Lernens innerhalb organisierter Lernprozesse;
  • stärkere Lerndiagnose, Lernberatung und Lernbegleitung (unter expliziter Berücksichtigung informellen Lernverhaltens);
  • Weiterführung der durch Medien angestoßenen informellen Lernprozesse durch konkrete organisierte Lernangebote.

Ein Schlüssel für diese Verknüpfung bzw. Einbeziehung des informellen Lernens in organisierte Lernprozesse sind - wie so häufig - die Dozenten oder auch Teletutoren: Sie müssen letztlich dafür qualifiziert werden, auch das informelle Lernen zum Gegenstand ihrer pädagogischen Betreuung machen zu können (etwa mit Methoden der Metakognition).


Dass so etwas durchaus möglich ist, zeigt ein Blick über die Grenzen: In anderen europäischen Ländern hat das informelle Lernen sogar beim Erwerb von Bildungsabschlüssen explizite Berücksichtigung gefunden.