Reflektierte kulturelle Vielfalt als Chance
Darmstadt, März 2011 - Zur Eröffnung der diesjährigen didacta in Stuttgart hielt Prof. Wassilios E. Fthenakis als Präsident des didacta-Verbands eine viel beachtete Eröffnungsrede. Im Rahmen seiner Analyse der gegenwärtigen Situation des deutschen Bildungssystems kam er nicht nur auf die fehlende Diskursivität im System sondern auch auf die Notwendigkeit von Interkulturalität zu sprechen. CHECK.point eLearning veröffentlicht Auszüge aus dieser Rede hier mit freundlicher
Erlaubnis des didacta-Verbands.
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Eine Analyse der gegenwärtigen Situation des deutschen Bildungssystems offenbart die Gründe für seine Mittelmäßigkeit im internationalen Vergleich und offenbart zugleich Chancen für dessen Weiterentwicklung. Diese möchte ich mit der gebotenen Kürze benennen:
Das Bildungssystem in Deutschland folgte viel zu lang den Prämissen des Nationalstaates
Nationalstaaten benötigen bekanntlich Mechanismen, um ihre Kohäsion zu sichern. Neben familienpolitischen Mechanismen - beispielsweise die Familie als Institution, als die Keimzelle der Gesellschaft, der die Familienmitglieder zu dienen haben - sind es vor allem bildungspolitische Mechanismen, die den Zusammenhalt des Nationalstaates sichern sollten. Letzteres erfolgte durch die Dominanz der Muttersprache bzw. durch die Stärkung der ethnischen Identität.
Andere Sprachen haben, wenn überhaupt, nur einen nachrangigen Wert und dienen nicht den Zielen des Nationalstaates. All dies erfolgte lange Zeit auf Kosten der Mehrsprachigkeit und der Stärkung interkultureller Kompetenz. Heute bieten allein in Europa 26 weitere vormals Nationalstaaten den potenziellen Lebens- und Arbeitsort unserer Kinder, den sie frei wählen dürfen.
Dafür benötigen unsere Kinder linguale und interkulturelle Kompetenz, ein anderes Bildungskonzept, das die Grenzen des national motivierten und begründeten Bildungssystems überwinden lässt.
Dem Bildungssystem in Deutschland liegt ein überholtes Bildungsverständnis zugrunde, das keine optimalen Entwicklungschancen für alle Kinder ermöglicht.
Zahlreiche Bildungspläne der Bundesländer greifen vorrangig auf die traditionsreiche deutsche Diskussion um die Bedeutung von Bildung für die Persönlichkeitsentwicklung zurück. Der Begriff von Bildung wird von Prozessen wie Lernen, Entwicklung oder Erziehung, im Gegensatz zu internationalen Entwicklungen, deutlich abgegrenzt. Das zentrale Stichwort in dieser Argumentation lautet "Selbstbildung - das Kind bildet sich selbst". Bildung wird als ein Individuum zentrierter Ansatz konzeptualisiert, der bewusst von dem der Erziehung abgehoben wird.
Bildung in diesem Sinne wird als Selbstaneignung der Welt durch das Kind definiert, das sich in diesem Prozess zugleich selbst hervorbringt. Eine solche Auffassung von Bildung findet sich nur in den Bildungsplänen etlicher Bundesländer, nicht jedoch in Bildungsplänen im Ausland.
Vielmehr wird international, und jüngst in einigen wenigen Bildungsplänen in Deutschland, eine davon abweichende Auffassung von Bildung vertreten: Bildung wird nunmehr als sozialer Prozess konzeptualisiert, der kontextabhängig stattfindet und nach Sinnkonstruktion strebt. Dies hat tiefgreifende Folgen für das Verständnis von Bildungsqualität und die Weiterentwicklung von Bildungsinstitutionen.
Wenn Bildung als sozialer Prozess konzeptualisiert wird, wenn Bildungsprozesse auf den Kontext auszurichten sind, in dem sie stattfinden, dann wird ein Bildungsverständnis befürwortet, das in Übereinstimmung mit neueren Erkenntnissen das Kind von Geburt an in soziale Beziehungen eingebettet sieht. Danach wird Lernen wie Wissenskonstruktion als ein interaktionaler Prozess begriffen, der über den pädagogisch-didaktischen Ansatz der Co-Konstruktion moderiert wird, nach Sinnkonstruktion strebt und dessen Verinnerlichung als Gegenstand entwicklungs- und individualpsychologischer Forschung angesehen wird.
Eine solche Auffassung wirkt sich zugleich aus auf die Qualität der Erzieher/Lehrer-Kind-Beziehung, auf den Zusammenhang zwischen formell und informell organisierten Lernprozessen und letztendlich auch auf die Beziehung zwischen Bildungseinrichtung einerseits und Familie und Gemeinde andererseits. Eine Bildungskonzeption, die dem Prinzip der Co-Konstruktion Rechnung trägt, setzt aber auch ein anderes als das gegenwärtig bestehende Bildungssystem voraus, und dies gilt sowohl in strukturell-organisatorischer als auch in pädagogischer Hinsicht.
Der Ansatz der Co-Konstruktion (anstelle des Selbstbildungsansatzes im Elementar- und des Vermittlungsansatzes im Primarbereich) ermuntert jedes Kind, seine eigenen Ideen zu entwickeln, diese zu äußern, mit anderen Kindern und mit Erwachsenen auszutauschen und zu diskutieren. Im Gegensatz zum Selbstbildungsansatz ist er in hohem Maße ein diskursiver Ansatz. Die fehlende Diskursivität im System stellt auch eines der Haupthindernisse für die Entwicklung hoher Sprachkompetenz dar, nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch für deutsche Kinder.
Wenn wir eine hohe Bildungsqualität für jedes Kind sichern möchten, benötigen wir eine andere theoretische Fundierung des Bildungsverlaufs und einen anderen didaktisch-pädagogischen Ansatz. Und es wird kaum helfen, 400 Millionen Euro für Sprachförderung zu investieren, um die Folgen eines nicht diskursiven Systems zu kurieren. Es hätte aber geholfen, wenn man das Bildungssystem diskursiv gestalten würde - und dafür würde ein Vierteil dieser Investition vollkommen reichen und die Wirkung wäre nachhaltig.
Das Bildungssystem in Deutschland ist de-kontextuell orientiert
Dadurch, dass Bildung sich einem Individuum zentrierten Ansatz verpflichtet fühlt, bleibt das Bildungssystem in Deutschland de-kontextuell, d. h. es bietet keine Antworten auf kontextuelle Problemstellungen, wie z. B. soziale Ausgrenzung, Migration, Mobilität, Armut etc., und es bettet auch nicht den Bildungsprozess in den sozialen und kulturellen Kontext ein.
Eine solche Orientierung des Bildungssystems erweist sich als hinderlich für Integration und vernachlässigt in hohem Maße die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Migrationshintergrund. Und nicht nur ihre!
Dem deutschen Bildungssystem fehlt es an der erforderlichen Konsistenz
Das große Problem des Bildungssystems in Deutschland besteht in der fehlenden Konsistenz im Bildungsverlauf. Es ist gebaut wie ein Hochhaus, für dessen Bau pro Stockwerk ein anderer Architekt beschäftigt wurde. Jeder Architekt hat sich in seinem Stockwerk verwirklicht und alle haben es unterlassen, die Verbindungstreppen zu bauen. Bisherige Bemühungen, dies zu verändern, haben den gewünschten Erfolg vermissen lassen.
Die empirische Bildungsforschung belegt, dass die (Nicht-)Bewältigung von Übergängen im Bildungsverlauf eine große Anzahl von Verlierern zur Folge hat. Dazu zählen vor allem die jüngeren Kinder eines Jahrgangs, die Jungen, die Kinder mit Migrationshintergrund und die Kinder aus bildungsfernen Familien. Man schätzt, dass der Anteil der davon betroffenen Kinder über ein Drittel aller Kinder ausmacht. Die Forschung belegt ferner, dass nicht bewältige Übergänge mit der Zeit ihre Effekte verstärken. So erweist sich z. B. der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule bei weitem nicht so gravierend, wie spätere Übergänge im Bildungsverlauf.
Deshalb ist eine Reform des Bildungsverlaufs erforderlich: Wir benötigen ein Bildungshaus von einem Architekten, der Bildungsvisionen entwirft, die die individuelle Bildungsbiografie des Kindes begleiten, alle Fachkräfte, unabhängig von der Bildungsstufe, verpflichten und einbinden, die an der konkreten individuellen kindlichen Biographie co-konstruieren. Bildungsziele, im Sinne der Stärkung kindlicher Kompetenzen, werden bereits im vorschulischen Alter definiert und konsistent in den darauffolgenden Bildungsstufen weiterentwickelt und -gestärkt.
Was stattdessen bislang erfolgt, ist ein Zusammenbrechen von Bildungszielen an den Übergängen und deren Neukonstituierung auf der darauf folgenden Bildungsstufe. Dies bedingt nicht nur Verluste von Bildungseffekten, es bringt zusätzlich auch große Nachteile für die Kinder der genannten Gruppen mit sich.
Es ist demnach ein Bildungssystem erforderlich, dass auf individuelle Bildungsverläufe fokussiert, also die kindliche Bildungsbiografie und weniger die Bildungsinstitution in den Mittelpunkt rückt und das in seinem Verlauf auf der gleichen theoretischen Grundlage aufbaut und es vermeidet, die Kinder auf allen Bildungsstufen mit einer anderen Philosophie zu konfrontieren.
Konsistente Bildungssysteme sind in ihrer Leistungsfähigkeit generell überlegen und sie sind geeignet, um, in Kombination mit anderen Ansätzen, individuelle kindliche Bildungsbiografien optimal zu gestalten und die Benachteiligung bestimmter Gruppen zu vermeiden.
Das Bildungssystem in Deutschland hatte - und teilweise hat es immer noch - eine gestörte Beziehung zur Diversität
Ein weiteres Charakteristikum des deutschen Bildungssystems liegt in einem ambivalenten, ja sogar gestörten Verhältnis zur Diversität. Diversität wird entweder ignoriert oder sie wird eliminiert. Jedenfalls wird sie nicht als Bereicherung und als erweiterte Lernchance begriffen.
Demgegenüber wird Diversität in den neueren Bildungsplänen international bejaht, begrüßt und gezielt genutzt, um mehr Lernerfahrungen zu gewinnen und mehr gemeinsamen Gewinn zu erzielen. Dieses gewandelte Verständnis von Diversität reflektiert kulturelle Vielfalt und betrachtet sie als Chance.
So gesehen, reflektieren diese Pläne Differenzen, die sich aus einer erweiterten Altersmischung, aus dem Geschlecht des Kindes, aus dem kulturellen und sozialen Hintergrund sowie aus den besonderen Bedürfnissen (z. B. hoch begabte Kinder, Kinder mit Entwicklungsrisiken etc.) ergeben. Auf der individuellen Ebene werden die Kinder veranlasst, über eigene Stärken und Schwächen nachzudenken. Diese intraindividuelle Sensibilisierung für Diversität kann als Ausgangspunkt genutzt werden, um mit den Kindern gemeinsam die Einsicht zu entwickeln, dass die Stärken eines Freundes möglicherweise andere als die eigenen sind.
Dieser Erkenntnisgewinn wird auf Wertschätzung aufbauen müssen, um den Anspruch auf Respekt bezüglich der eigenen Stärken zu legitimieren. Goethe hat es vortrefflich zum Ausdruck gebracht: "Toleranz sollte eigentlich eine nur vorübergehende Gesinnung sein, die zur Anerkennung führen muss. Dulden heißt beleidigen". Um diese Anerkennung, um eine Kultur von Differenzen, geht es also, und um deren gezielte Nutzung bei der Organisation von Bildungsprozessen.
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