"Im Learning Ecosystem sind wir Nutzer, Gestalter und Kritiker"
Saarbrücken, April 2019 - Die Zeiten, als Lernprozesse noch an einem zentralen Ort oder über einen einzigen Kanal abliefen, gehören der Vergangenheit an. Menschen, die sich heute neues Wissen oder neue Kompetenzen aneignen möchten, bewegen sich durch Learning Ecosystems. Im Interview verraten die Weiterbildungsexperten Uwe Hofschröer und Kirsten Wessendorf, die beide für den Bildungsanbieter IMC tätig sind, was sich hinter dem Begriff Learning Ecosystems verbirgt. Das Gespräch soll klären, weshalb der Begriff sich so gut auf die Strukturen übertragen lässt, in denen Lernen heute stattfindet.
Der Begriff Learning Ecosystems verdient zunächst eine Definition. Was darf man sich darunter vorstellen?
Uwe Hofschröer: Der Begriff "Learning Ecosystems" spiegelt wie ich finde sehr gut wieder, wie viele Elemente in heutigen Lernstrukturen miteinander interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Wenn wir ihn auf Lernen im Unternehmenskontext als unser Hauptthema beziehen, umfasst er alle Angebote und Rahmenbedingungen innerhalb der Organisation, die Lernprozesse ermöglichen oder fördern.
Da wären zunächst einmal die Technologie, die technische Infrastruktur und die nötigen Softwaresysteme. Dieses Grundgerüst bietet Raum für alle erdenklichen Inhalte und Inhaltsformate, die von ausführlichen Web based Trainings (WBTs) über Mini Quizzes und von Mitarbeitern selbst erstellten User Generated Content bis hin zu sozialen Lernformen mit Kollegen und On-the-Job Trainings reichen. Dazu zählen aber auch die Prozesse und Anreizsysteme, die helfen, dass die Mitarbeiter den richtigen Trainingsinhalt für ihre Aufgabe bekommen oder ermutigt werden, die Angebote des Ecosystems zu nutzen, um am Ende genau die Unterstützung und den Lerninhalt zu finden, den sie für Aufgabe X brauchen.
Diese Aspekte sind Bestandteil der Lernkultur innerhalb des Unternehmens. Die Menschen nehmen innerhalb des Systems ganz verschiedene Funktionen wahr, sie sind Nutzer, Gestalter, Kritiker, Impulsgeber und manchmal sogar selbst Inhaltsquelle, wenn sie Kollegen anleiten oder beratend zur Seite stehen. In diesem System ist alles miteinander vernetzt. Die Aufgabe der Menschen darin ist es nicht zuletzt, den Einsatz der richtigen Technologie für das richtige Thema gezielt zu steuern. Software allein löst schließlich kein Problem, dafür braucht es den Menschen als "Steuermann".
Der Mensch hat innerhalb des Systems auch seinen Platz als Gestalter einer offenen und lebendigen Lernkultur oder?
Kirsten Wessendorf: Definitiv. Und an dieser Stelle kommt die Unternehmensführung als wichtige Instanz mit ins Spiel. Denn Lernprozesse in Organisationen können nur dann erfolgreich ablaufen, wenn vom Lerner selbst gesteuerter Kompetenzaufbau explizit gewünscht ist und sach- wie zielgruppengerechte Lernangebote existieren. In jedem Fall muss Lernen innerhalb des Unternehmens als Wert gelten.
Meine Organisation kann zwar über den tollsten Content verfügen, wenn Lernen jedoch neben anderen Zielen wie Verkaufszahlen keine Rolle spielt und deshalb nicht gefördert und honoriert wird werden neue Kompetenzen im Unternehmen einfach nicht entwickelt. Mitarbeiter verhalten sich in diesem Zusammenhang völlig logisch und tun, was honoriert wird.
Wertschätzt das Unternehmen Mitarbeiter, die sich weiterbilden oder ihr Wissen sogar gerne mit Kollegen teilen, dann werden die Mitarbeiter genau das tun. Wenn sich diese Personen engagieren, bekommen wir eine lebendige Lernkultur.
Was macht eine positive Lernkultur aus Ihrer Sicht neben der Wertschätzung durch das Führungsteam aus?
Uwe Hofschröer: Lernfähigkeit halte ich hier für ein wichtiges Stichwort. Nicht nur die Lernenden durchlaufen als Teils des Systems Lernprozesse, sondern Learning Ecosystems lernen auch selbst. Das müssen sie auch können, denn schließlich verändern sich Weiterbildungsbedarfe und Unternehmensstrategien in vielen Branchen rasant.
Ein Learning Ecosystem muss damit Schritt halten können. Die Menschen innerhalb des Systems bringen ihm durch ihre Anregungen und ihren Input buchstäblich bei, welches Format am besten zu welchem Inhalt passt, wann es sich lohnt, den Mitarbeitern Mobile Learning Angebote zur Verfügung zu stellen und wann sich eher ein Präsenztraining oder WBT eignet. Sie geben Ratings ab, kuratieren Inhalte, diskutieren in Foren über Themen, für die künftig ein Weiterbildungsbedarf entstehen könnte.
All diese Ideen und Informationen stecken irgendwann in dem System, was einen ziemlichen inhaltlichen Reichtum bedeutet. Besonders interessierte und wissbegierige Mitarbeiter, die in einer perfekten Welt auch noch Spaß am Aufbereiten und Vermitteln von Inhalten haben, sind ebenfalls eine Bereicherung. Indem sie regelmäßig neue Inhalte in das System einpflegen, die Lösung für ein Problem vorstellen oder eine interessante Frage aufwerfen, erhalten sie die Dynamik des Learning Ecosystems aufrecht.
Aus Unternehmenssicht zeichnet sich ein gutes System natürlich auch dadurch aus, dass seine Inhalte und Prozesse auf die Unternehmensziele einzahlen. Schließlich ist betriebliche Weiterbildung kein Selbstzweck, sondern immer in irgendeiner Weise an die Unternehmensstrategie gekoppelt.
Kirsten Wessendorf: Richtig, allerdings können die Lernziele des einzelnen Mitarbeiters durchaus von den Qualifizierungszielen der Organisation abweichen, denn das Unternehmen weiß im Zweifelsfall nicht, dass sich Mitarbeiter Y und Z tagtäglich mit einem neuen Controlling-Tool abmühen. In einem idealen Learning Ecosystem finden die Mitarbeiter entweder selbst zum Beispiel den Process Guide, der durch das neue Controlling Tool führt, oder sie haben eine Anlaufstelle, die möglicherweise dafür sorgt, dass der entsprechende Performance Support zur Verfügung gestellt wird.
Learning Ecosystems, die imstande sind, solche Bedarfe aufzugreifen, funktionieren gewissermaßen demokratisch, da sie den Lernbedarf des einzelnen weiterkommunizieren beziehungsweise abbilden können. Dieses Beispiel zeigt außerdem, dass ein reibungslos funktionierendes Learning Ecosystem ohne Kommunikation nicht auskommt. In einem solchen Netzwerk herrscht ein ständiger Informationsfluss in alle Richtungen. Außerdem hat ein gutes Learning Ecosystem aus meiner Sicht mehrere Zentren, die wie kleine Schaltzentralen eigenständig agieren, wie beispielsweise Community Manager.
Das steht in krassem Gegensatz zu Top-Down Ansätzen, bei dem "von oben" definiert wird, was auf den Lehrplan gehört und was nicht. In modernen Learning Ecosystems gestalten die Lernenden die Inhalte aktiv mit. Ich nehme diese Entwicklung als sehr positiv wahr. Der Top-Down Ansatz ist ausgesprochen träge. Bis zur Produktion eines vom Chef abgesegneten Inhalts verstreicht mitunter so viel Zeit, dass der Inhalt bei Fertigstellung schon wieder überholt ist.
Kompetenzerwerb in Netzwerken macht agil und neue eventuell kurzlebige Inhalten werden schnell entwickelt. Indem die Lerner eingebunden und aktiviert werden, passt der entstehende Learning Content in der Regel viel besser zum Thema beziehungsweise Weiterbildungsbedarf.
Dem Lerner kommt innerhalb des Systems, so wie Sie es beschreiben, eine ziemlich wichtige Rolle zu. Können Sie sich ein Learning Ecosystem vorstellen, das ab einem gewissen Reifegrad selbstgesteuert durch die Aktivität der Lernenden funktioniert?
Uwe Hofschröer: Das wäre wunderbar, ist aus meiner Sicht aber leider Wunschdenken. Die Erfahrung hat hier mehrfach gezeigt, dass man sich auf Selbststeuerung nicht genug verlassen kann. Man kann das am Beispiel von Learning Communities sehen, deren Aktivität in Zyklen verläuft, wenn sie vollkommen selbstgesteuert sind. Nach einer Phase reger Aktivität kann also durchaus eine Art Flaute folgen.
Ich empfehle Unternehmen daher, kontinuierlich Impulse im Learning Ecosystem zu setzen und so die Dynamik der Community aufrecht zu erhalten. Dafür braucht es Learning Manager und zentrale Projekte und Initiativen, die ebenfalls das Learning Ecosystem weiterbringen.
Hätten Sie zum Abschluss noch weitere Tipps für Unternehmen, die gerade dabei sind ein Learning Ecosystem aufzubauen oder das Projekt auf ihrer To-Do Liste haben?
Kirsten Wessendorf: Unternehmen sollten immer den Bedarf der Organisation UND den der Nutzer im Auge behalten. Nur wenn es gelingt, beiden Bedarfen gerecht zu werden, werden die Lerner das System langfristig und aktiv nutzen und die Unternehmensführung das System dauerhaft unterstützen. Dass der Lerner ein Wissensnugget, WBT, Video oder auch einen Workshop findet, der ihm konkret weiterhilft, ist einer der Erfolgsfaktoren.
Uwe Hofschröer: Auch der Einsatz von Lerntechnologie nur der Technologie willen oder um als besonders hipper Arbeitgeber zu gelten, ist nicht hilfreich. Technologie allein löst wie gesagt kein Problem und sollte nur dann zum Einsatz kommen, wenn sich durch sie ein Inhalt besonders zweckmäßig vermitteln lässt. Deshalb liegt einem guten Learning Ecosystem aus meiner Sicht auch ein Blended Learning Ansatz also eine Mischung aus digital und analog zugrunde.
Auch der bereits genannte Aspekt der Motivation und Förderung ist essentiell. Nicht alle Mitarbeiter sind von sich aus und von Anfang an motivierte Lerner. Deshalb müssen Führungskräfte innerhalb der Organisation als echte Weiterbildungsfans auftreten und aktiv auf die Vorteile digitaler Trainingsangebote und anderer Formate hinweisen, bis innerhalb der gesamten Organisation ein Bewusstsein für den Wert von Weiterbildung entsteht. Das braucht Zeit und mit Sicherheit auch etwas Geduld.
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