Instant Technology: Lernen persönlicher machen
Mannheim, September 2013 - Seit seiner Zeit an der University of London in den frühen Achtzigern beschäftigt sich Piers Lea mit Distance Learning und Online-Kommunikation. Als Geschäftsführer von LINE Communications arbeitet er auf strategischer und beratender Ebene in diesem Umfeld. Vor Kurzem wurde er Board Member der ELIG, der European Learning Industry Group. Im Interview spricht der bekannte eLearning-Experte und Keynote-Speaker der Messe Zukunft Personal 2013 über Trends im Corporate Learning und die Entwicklung von Lerntechnologien.
Herr Lea, wie ist der eLearning-Markt momentan aufgestellt: Investieren Unternehmen im Vergleich zum vergangenen Jahr mehr oder weniger in Lerntechnologien?
Piers Lea: Insgesamt ist eine Steigerung am Markt zu beobachten. In Europa sind die Umstände der Unternehmen in verschiedenen Ländern in letzter Zeit sehr unterschiedlich gewesen. Es gab vor 2012 etwa einige Budget-Kürzungen bei den UK-ansässigen Unternehmen. Wir haben ein Büro hier in London und Sheffield und auch eins in der Schweiz. Was uns betrifft, hat sich die Situation Ende letzten Jahres und in diesem Jahr beruhigt. Die Wirtschaft in den USA und der Eurozone haben anscheinend das Vertrauen der Menschen geschwächt. Und wenn jemand misstrauisch ist, gibt er normalerweise kein Geld aus!
Derzeit stehen wir möglicherweise an einem wichtigen Wendepunkt beim Einsatz von Lerntechnologien – sowohl in Bezug auf den Arbeitsplatz als auch auf die Hochschulbildung. Es gibt einen starken Impuls, Dinge zu ändern. Es bedarf einen funktionellen Wandel, der zum einen von der Verfügbarkeit neuer Technologien und von neuen Formen der Unternehmensführung angetrieben wird. Zudem wird dieser Wandel durch die Tatsache befördert, dass die Welt immer schneller wandelt und gleichzeitig komplexer wird. Die alten Modelle umfangreicher Weiterbildungsangebote funktionieren einfach nicht mehr. Die Komplexität verlangt tiefgehende Fachkenntnisse, die ein immer intensiveres Lernen voraussetzen. Die Schnelligkeit, mit der sich die Dinge verändern und entwickeln, ist ein globales Phänomen. Wir beobachten das in Regierung und Legislative, in der Verteidigungspolitik mit neuen und anderen Prioritäten oder auch in den großen Universitäten.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Piers Lea: Wir arbeiten für Jaguar Land Rover. Der Automobilmarkt produziert mehr Autos mit komplexeren Technologien und häufiger als je zuvor. Es gibt weltweit etwa 50.000 Händler, die ihren Kunden die sich verändernden Technologien erklären müssen. Und wie das geschieht, hat sich massiv verändert. Organisationen aus allen Bereichen ändern ihre Prioritäten und reduzieren Personal, das auch noch flexibler zu arbeiten hat. Arbeitskräfte müssen sich mit extrem komplexen Technologien und neuen Denk- und Arbeitsweisen auskennen.
Welche technologischen Trends haben eLearning in letzter Zeit am meisten beeinflusst?
Piers Lea: Der Durchbruch der Mobiltechnologie wird erhebliche Auswirkungen auf die Art des Lernens haben. Das liegt weniger daran, dass diese Technologie so anders ist, sondern an der Beziehung der Menschen zur Mobiltechnologie. Das Verhältnis zu Laptops, Schreibtischen oder PCs ist ganz anders – mobile Geräte sind persönlicher. Das Handy ist "meins", während der Laptop wahrscheinlich dem Unternehmen gehört. Desktop-Anwendungen werden einfach mehr mit Arbeit verbunden als mit Lernen. Was sich verändert ist also hauptsächlich die Wahrnehmung der Technologie und nicht die Technologie selbst. Lassen Sie uns außerdem nicht vergessen, dass noch nie eine Technologie so schnell den Markt erobert hat wie Smartphones und Tablets. Das Versprechen der ständigen Erreichbarkeit ist also groß. Nicht alle Arbeitskräfte haben PCs oder sitzen an einem Schreibtisch. Aber jeder hat ein Handy. Und wenn nicht jetzt, dann bald.
Wenn Mobilgeräte persönlicher sind, bedeutet das dann auch, dass eLearning persönlicher wird?
Piers Lea: Das ist ganz klar das Ziel. Das Potential besteht darin, das genaue Lernniveau der Menschen zu erkennen. Sie lernen also nichts, was sie schon wissen oder unwichtig für sie ist. Mobilgeräte bringen die Lernerfahrung direkt zum Arbeitsplatz ohne die klassische Verzögerung zwischen der Aneignung und der Anwendung des Wissens. Wir sollten beginnen, Lernen als einen Prozess zu sehen. Das Ziel besteht darin, sicherzustellen, dass wir diese "Instant Technology" persönlicher gestalten. Schafft die Branche das? Nein, noch nicht. Aber versuchen wir es? Ganz sicher!
Es gibt riesige Unterschiede zwischen Mobilsystemen und Software. Inwieweit sollten diese Unterschiede bei der Produktion von eLearning-Technologien berücksichtigt werden?
Piers Lea: Wir als Organisation haben in den letzten Jahren viel investiert, um das Thema anzupacken und an der mobilen Revolution teilzuhaben. Ein Ergebnis davon ist, dass wir unser gesamtes Framework und die Technologien für einen schnellen Aufbau von eLearning in Richtung Multi-Plattformen ausrichten. Sie laufen auf PCs und alle Arten von Mobilgeräten mit einem besonderen Fokus auf iOS- und Android-Plattformen. Wir haben ein komplettes System namens LINEstream erstellt, bei dem es sich eigentlich um eine Methode handelt, Organisationen bei der Entwicklung von Apps für Mobil- und Web-Anwendungen sowie von ganzen Mobilanwendungen zu helfen.
Handelt es sich hierbei noch um eine Art umfangreiche Lernplattform (LMS) oder was ist der Unterschied?
Piers Lea: LINEstream ist anders als LMS (Learning Management Systems). Die Idee ist, sich mit den traditionellen LMS der Unternehmen zu verbinden, um die Funktion der Multi-Plattform zu ermöglichen. Die Organisationen verfügen über eine technische Lerninfrastruktur für alle möglichen, gewünschten Lernformen. In dieser Struktur gibt es viel Raum für mobiles Lernen und Lernmanagement. Das Bild ist also etwas komplexer. Hier kann man nicht mit "entweder-oder" argumentieren. Alles hängt davon ab, was die Organisationen tun möchte.
Viele Experten sagen eine Entwicklung hin zum informellen Lernen voraus. Inwiefern sind die Unternehmen darauf vorbereitet?
Piers Lea: Es gibt ein paar Organisationen, die informelle Systeme erfolgreich einsetzen, aber auch hier gilt: Es gibt kein "entweder-oder". Die Systeme sind Teil der Lernstruktur einer Organisation. "70-20-10" ist ein Modell, das Morgan McCall und seine Kollegen in den Neunzigern an der Princeton University entwickelt haben. Das Modell besagt, dass 70 Prozent des Erlernten aus dem Job kommt, 20 Prozent aus der Beziehung zu den Kollegen und Mitarbeitern und 10 Prozent aus formellen Lernmethoden. Und dieses 70-20-10-Modell liefert eine genaue Idee davon, wie Menschen am Arbeitsplatz lernen. Hält man eLearning nun für diese 10 Prozent des formellen Lernens, dann ist es nicht besonders interessant. Die Idee bei der Verwendung technologischer Lernmethoden in großen Organisationen besteht darin, das Netzwerk hinter diesem ganzen 70-20-10-Bild zu fördern.
Könnten Sie ein Beispiel für erfolgreiche Projekte in Unternehmen nennen, die diesen Ansatz durch Networking unterstützen?
Piers Lea: Ein offensichtliches Beispiel ist natürlich IBM. Dabei gehen unterschiedliche Bereiche der Organisation unterschiedlich vor. Sie nehmen einen vollkommen gemischten Ansatz vor, ein einziges gemischtes Zusatzprogramm. Ein paar der "Big Four" der professionellen Dienstleistungsfirmen schaffen dies. Ein großer Teil dieses Prozesses erfolgt online und dieser Online-Ansatz ist wiederum eine Mischung aus Support, Coaching oder eLearning. Auf diese Weise wird der Prozess des Lernens sehr effizient.
Was ist wichtiger für das informelle Lernen: neue Technologien oder eine kulturelle Veränderung?
Piers Lea: Die Führung spielt eine sehr wichtige Rolle. Führungskräfte müssen den Bedarf an Technologien und die strategische Bedeutung des Lernens erkennen. Es gibt tatsächlich nur wenige Organisationen, die darauf Wert legen, vor allem weil man dabei in der Vergangenheit immer von "Training" gesprochen hat. Und Training steht in der Prioritätenliste häufig sehr weit unten. Insbesondere im UK stehen bei 50 Prozent aller AGs die Aspekte Weiterbildung und Personalentwicklung im Aufsichtsrat nicht auf der Agenda. Es ist also wirklich schwierig für diese Organisationen, Vorteile aus Lernstrategien zu ziehen. Dabei müssten sie systematisch vorgehen. Damit das etwas bringt, sollten die Firmen unternehmensweite oder zumindest entsprechende abteilungsübergreifende Strategien verfolgen. Die geringe Dringlichkeit, die Unternehmen dem Thema beimessen, und der Mangel an schriftlich fixierten Lern-Strategien ist das größte Hindernis für informelles Lernen und neue Technologien.
Inwiefern wird informelles Lernen Lerninhalte verändern?
Piers Lea: Der Schlüsselfaktor für informelles Lernen ist der Wandel vom Wissen lehren zum Lernen erlernen. Heute können wir nicht einfach eine Ausbildung machen, zur Arbeit gehen und glauben, dass der Lernprozess vorbei ist. Wir sind aber noch nicht besonders gut in der neuen Art zu lernen. Wir müssen die Lernerfahrung an den Arbeitsplatz bringen. Wir sollten nicht mehr für den Fall lernen, dass wir in Zukunft ein bestimmtes Wissen brauchen. Es reicht, dies "gerade noch rechtzeitig" zu lernen. Mitarbeiter müssen nichts drei Wochen oder ein Jahr im Voraus lernen; sie lernen, indem sie die Dinge einfach ausprobieren, während sie Unterstützung am konkreten Arbeitsplatz oder über mobile Anwendungen bekommen.
Sie wurden vor Kurzem zum Board Member der European Learning Industry Group ernannt. Somit sind Sie auch an Gesprächen über die Rolle Europas für die Zukunft des Lernens beteiligt. Welchen Einfluss hat Europa auf Trends wie Massive Open Online Courses (MOOCs)?
Piers Lea: Die Frage ist, ob MOOCs einen nachhaltigen Trend darstellen. Vor ein paar Monaten war ich bei einer Konferenz an der London Business School, wo dieses Thema viel diskutiert wurde. Die Frage ist, wie man MOOCs kommerziell betreiben kann; das ist im Moment noch sehr vage. Es gibt ein paar neue spannende Organisationen in Europa, die das schaffen könnten. Und zweifellos werden MOOCs Auswirkungen auf die Verwendung technologischer Lernmethoden haben, da es den Leuten die Augen für die Möglichkeiten des Lernens zeigt.
Im UK etwa gibt es Studiengebühren; die Hochschulausbildung ist also zumindest an einem festen Standort nicht mehr kostenfrei. Und deshalb funktionieren Organisationen wie die Open University so gut. Wir beobachten, dass immer mehr Menschen gleichzeitig arbeiten und ihr Studium absolvieren. Aber da die USA bereits jedes erdenkliche Studium auf der ganzen Welt online anbieten, müssen europäische Universitäten sehr schnell handeln. Das ist die wahre Bedrohung. Andererseits könnten sie auch stark profitieren, wenn sie über die nötige Finanzierung, das Material, Fachwissen und die Fähigkeiten verfügen. Zukunftsorientierte Universitäten in Europa müssen vieles anpacken, um eine Rolle bei diesem weltweiten Phänomen zu spielen.
Glauben Sie, dass die Entwicklung von eLearning in Europa sich von der Entwicklung in den USA unterscheiden könnte?
Piers Lea: In Europa gibt es viel Innovation und Einfallsreichtum. Das hat sich so entwickelt, weil unsere Märkte kleiner sind und wir verschiedene Sprachen und Kulturen haben. Alles, was wir tun müssten, ist deshalb, die Möglichkeiten für eLearning zu durchdenken und richtig zu investieren. Wir verfügen über die besten Voraussetzungen, um am internationalen Markt teilzunehmen. Das ist einer der Gründe dafür, warum ich in der ELIG mitwirke: um Vordenkern für Lernen und entsprechende Technologien eine Stimme zu geben. Das ist keine Kleinigkeit, sondern entscheidend dafür, ob Europa in Zukunft konkurrenzfähig ist. Und wenn die Menschen hier nicht wirklich bald aufwachen und etwas tun, werden wir den Anschluss verpassen.
Keynote-Vortrag von Piers Lea:
“Using technology to drive results in learning. How to accelerate the experience of your workforce” (auf Englisch)
Zukunft Personal 2013
Dienstag, 17. September 2013, 12 bis 13:30 Uhr
Im Anschluss Public Interview
koenlmesse, Halle 2.2, Keynote-Forum (Forum 5)